Wider Klischees und migrantisches Casting

Der Tatort aus Göttingen seit Februar 2019 mit Florence Kasumba als Kommissarin Anaïs Schmitz an der Seite von Maria Furtwängler. Im Krimi "Das verschwundene Kind" ermitteln sie erstmals zusammen. Foto: Christine Schröder/NDR

Der gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd hat weltweit zu Protesten gegen Rassismus geführt. TV-Sender und Streamingdienste haben vorsorglich ihre Programme untersucht; HBO Max zum Beispiel hat den Hollywood-Klassiker „Vom Winde verweht“ mit einer Art Gebrauchsanweisung versehen. Im deutschen Fernsehen scheint es keinen Handlungsbedarf zu geben; die schwarze Produzentin Nataly Kudiabor sieht das ganz anders.

Christine Strobl, als Geschäftsführerin der ARD-Tochter Degeto für mehrere hundert Filme pro Jahre verantwortlich, spricht für alle ARD-Sender, wenn sie beteuert: „Wir empfinden es als unseren Auftrag, uns immer wieder mit dem Thema Integration zu beschäftigen und die Angst vor Fremden zu hinterfragen.“ Das Spektrum beim beliebten Freitagsfilm reicht von Komödien über den Zusammenprall der Kulturen (zuletzt „Servus, Schwiegersohn“ mit Adnan Maral als türkischer Bayer) bis zu Komödien, in denen laut Strobl „Figuren mit Migrationshintergrund implizit miterzählt werden: als gesellschaftliches Faktum und nicht als herausgestellte Biografie.“ Es sei dabei ein besonderes Anliegen der Redaktion, Klischees zu vermeiden, „sowohl in Bezug auf klassische Rollenbilder als auch auf kulturelle und biografische Identitäten.“

Heike Hempel und Frank Zervos, Leiterin und Leiter der beiden Fernsehfilmabteilungen des ZDF, beteuern ebenfalls in einem gemeinsamen Statement, es sei ihnen „selbstverständlich ein Anliegen, die Vielfalt unserer Gesellschaft auch in unseren Filmen und Serien abzubilden.“ Beim NDR könnte man sich im Grunde mit dem Hinweis auf die „Tatort“-Tradition des Hauses begnügen: Mit Mehmet Kurtulus (2008 bis 2012), Fahri Yardim (seit 2013, mit Til Schweiger) sowie Sibel Kekilli (2011 bis 2017) und aktuell Almila Bagriacik als gleichberechtigte Partnerinnen von Axel Milberg setzt man im Norden fast schon traditionell auf Hauptdarsteller mit türkischen Wurzeln. Es passt ins Bild, dass der NDR mit Florence Kasumba als Anaïs Schmitz auch die erste schwarze Kommissarin im „Tatort“ ermitteln lässt. Im Darsteller-Team des „Tatort“ aus Dortmund (WDR) wirkt Alyin Tezel als Kommissarin mit türkischem Hintergrund mit, ohne dass dies besonders thematisiert würde.

Aber es gibt eben auch eine andere Seite. Schauspieler mit ausländischen Wurzeln beklagen zum Beispiel das Phänomen des „migrantischen Castings“: Wer eine dunkle Hautfarbe hat, wird nur dann eingeladen, wenn eine entsprechende Rolle besetzt werden soll.

Filmproduzentin Nataly Kudiabor Foto: UFA

Für Nataly Kudiabor zeigt das, „wie eurozentrisch unsere Branche nach wie vor geprägt ist.“ Als Tochter eines ghanaischen Vaters und einer deutschen Mutter weiß die UFA-Produzentin, wovon sie redet, wenn sie von „strukturellem Rassismus“ spricht: Man sei immer „der oder die Andere.“ Diese Haltung sei auch im Fernsehen nach wie vor präsent: „Wenn eine Figur auftaucht, die im landläufigen Sinn nicht ‚deutsch’ wirkt, wird stets erklärt, wo sie herkommt. Anscheinend glaubt man bei den Sendern, die Zuschauer seien überzeugt: Wer irgendwie anders aussieht, kann auch kein Deutscher sein.“ Entsprechend klischeehaft seien viele Rollen: „Afrikaner sind Flüchtlinge. Sie können zwar gut tanzen, sind aber kriminell. Türken sind Gemüsehändler, Asiaten haben einen China-Imbiss.“ Nur selten werde erzählt, „dass viele dieser Menschen, die pauschal als ‚Ausländer’ gelten, hier geboren sind, einen deutschen Pass haben und sich als Deutsche fühlen.“

Natürlich gibt es positive Gegenbeispiele: Hauptfigur des Dramas „Das deutsche Kind“ (2018, NDR) ist ein islamischer Geistlicher; in der Komödie „Einmal Hans mit scharfer Soße“ (2014, NDR) sucht eine türkischstämmige Deutsche nach einem passenden deutschen Mann; und „Leberkäseland“ (2015, Degeto) erzählt heitere und traurige Geschichten von der Integration einer fortschrittlichen türkischen Familie, die Anfang der Sechzigerjahre in eine rückständige deutsche Kleinstadt kommt. Kudiabor reicht das jedoch nicht. UFA-Chef Nico Hofmann hat die Devise vorgegeben: „Vielfalt im Fernsehen geht uns alle an.“ Sie will daher Serien produzieren, in denen es normal ist, „dass ein Afrodeutscher die Hauptrolle spielt, ohne zu erklären, warum er ‚so gut deutsch’ spricht. Es muss ohnehin viel mehr Formate geben, die nicht nur aus eurozentrischer Sicht geschrieben werden.“ Was sie meint, veranschaulicht ein Vergleich: „Geschichten über Menschen mit Migrationshintergrund werden viel zu selten von Autoren erzählt, die auch wissen, wovon sie sprechen. Ein Drehbuch über die Geburt eines Kindes aus Sicht der Mutter zum Beispiel würde man vermutlich nicht von einem kinderlosen Mann schreiben lassen.“

Die etablierten Sender klagen darüber, dass sie kaum noch junge Menschen erreichen. Die Schuld suchen sie gern bei den Streamingdiensten, aber womöglich hat das Desinteresse ja auch damit zu tun, dass die Hauptfiguren in den Filmen und Serien fast immer anders aussehen als große Teile der verlorenen Zielgruppe: Jeder vierte Deutsche hat einen Migrationshintergrund, in jüngeren Altersgruppen sind es deutlich mehr. RTL hat das früh erkannt: Seit 1996 spielt Erdoğan Atalay die Hauptrolle der Autobahnserie „Alarm für Cobra 11“. Trotzdem stellt Hauke Bartel, Fiction-Chef der Mediengruppe RTL, selbstkritisch fest: „Wir können und müssen gerade in Bezug auf die Abbildung einer bunten und multikulturellen Gesellschaft noch besser, authentischer und vielfältiger werden – und das fängt bei den Machern an.“ Das sieht auch Strobl so. Nach ihrer Einschätzung sei die Degeto „gerade in den letzten Jahren ein gutes Stück vorangekommen, aber auch noch nicht am Ende. Es bleibt ein permanenter Auftrag.“


Filmförderung nach Diversity Checklist

Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein hat im Juli für ihre Förderpraxis eine Diversity Checklist eingeführt. Ab sofort sind Antragsteller*innen verpflichtet, einen Fragenkatalog zur Diversität ihres geplanten Projektes zu beantworten. „So sollen sie zur bewussten Beschäftigung mit dem Thema Diversität und zur kritischen Überprüfung des eigenen Handelns angeregt werden. Sehen wir im geplanten Filmprojekt Menschen mit Behinderung? Wie viele Frauen sind in leitenden Funktionen am Projekt beteiligt? Gibt es im Team People of Colour? Und wenn nein: Warum nicht?“, heißt es bei der Filmförderungsanstalt.

 

 

 

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