Live-Videostreaming, Chatbots, Sensoren – Pfeiler eines modernen Journalismus?
Noch vor wenigen Jahren spuckten nicht wenige Journalisten Gift und Galle, wenn sie nur das Wörtchen „Blog” hörten. Ganz anders heute: Livevideos über Periscope haben sich im Fernsehjournalismus bereits als Zuschauer-Feedbackkanal etabliert. Und wenn Feinstaub-Sensoren Messwerte an die Redaktion übermitteln, ist bereits von „Sensorjournalismus”, alternativ auch von „Roboterjournalismus” oder „programmiertem Journalismus”, die Rede.
In der Tat gibt es inzwischen unzählige Möglichkeiten über das Internet Daten, Messwerte, Bilder, Videos Kommentare und Bewertungen abzugreifen und weiterzuverarbeiten. Es stellt sich die Frage, ob dies schon Journalismus ist oder ab welchem Veredelungsgrad dies Journalismus wird? Manch ein Digiterati vertritt die Ansicht, dass es schon Journalismus ist, auf allen Plattformen irgendwie präsent zu sein, also auch auf Snapchat oder in Multiplayer-Spielen. Das ist provokativ – ist aber im Sinne eines arbeitsteiligen Journalismus durchaus nachvollziehbar.
Im digitalen Raum kann alles als potenzielle Quelle begriffen werden, denn Journalist_innen definieren seit jeher selbst, über was sie berichten möchten und über was nicht. Als Flaneur der diversen Livestreams von Twitters Livestreaming-App Periscope, Meerkat, über Facebook Live und die Gamer-Videoplattform Twitch bis hin zur Selbstdarstellungsplattform YouNow können Journalist_innen alles registrieren und verarbeiten, was gesendet und gestreamt wird. In einem weiteren Schritt können sie die Community zur Inhalteproduktion aufrufen – und selbst Inhalte produzieren. Das Live-Streaming von Pressekonferenzen gilt als wenig attraktiv. Gerne werden Interviews und Veranstaltungen live übertragen. Aus Syrien gibt es immer wieder Periscope-Streams mit Stadtrundfahrten, die die momentane Lage dokumentieren sollen.
Mit neuen Live-Streaming-Diensten erweitern sich aber nicht nur die Distributions- und Dokumentations-, sondern auch Interaktionsmöglichkeiten. ZDF-Moderator Daniel Bröckerhoff nutzt beispielsweise Periscope und Facebook, um darüber nach einer Sendung von „Heute+” Zuschauer-Feedback aufzugreifen, der im Netz über einen Livestream angeboten wird. WeltN24 versteht sie als Möglichkeit, mit den Zuschauer_innen zu interagieren. Dabei galt übrigens Periscope für das Einsammeln von Zuschauerkommentaren lange Zeit als die bessere Wahl, da „Facebook Livestream” die Interaktion nur auf das Anklicken eines „Herzchens” reduziert.
Eine spannende Frage ist, wie Facebook und Twitter selbst mit Video-Livestreams umgehen: Ob sie als Plattform lediglich ein weiteres Feature anbieten oder selbst als Publisher in den Markt einsteigen wollen. Wie eine Personalie andeutet, könnten zumindest bei Twitter die Ambitionen höhergesteckt sein: Dort ist seit kurzem Evan Hansen für Periscope zuständig, der zuvor für die Publishing-Plattform Medium und davor für Wired als Redakteur gearbeitet hatte. Mittelfristig könnten Facebook, Twitter & Co. nicht nur über eigene Kanäle, die mit definierten Formaten bespielt werden, Publikum gewinnen, sondern auch Werbegelder generieren, die vormals ausschließlich an die Sender gingen. Die Plattformen können mit ihren Angeboten derzeit nur gewinnen, während die etablierten Anbieter einen Mehrwert erarbeiten müssen, der das Publikum weiterhin an sie bindet.
Nachrichtenschnipsel über Snapchat
Zur Rubrik „Interaktion” ist auch der Instant-Messaging-Dienst Snapchat zu rechnen, der vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr beliebt ist. Er eignet sich aufgrund seiner zahlreichen Bild- und Videobearbeitungsmöglichkeiten für Zuschauer- bzw. Leserfeedbacks mit emotionalen Statements.
Einzelne Redakteur_innen experimentieren auch mit Nachrichtenschnipseln. Der britische Journalistenausbilder Paul Bradshaw hat dazu bereits ein eigenes E-Book „Snapchat for Journalists” veröffentlicht, das „Good Practice”-Beispiele mit unterschiedlichen Tools enthält.
Snapchat hat überdies das vertikale Videoformat beliebt gemacht. Welches Videoformat aus journalistischer Sicht gewählt werden sollte, hängt davon ab, welches Publikum man mit welchen Inhalten ansprechen möchte. Im Kommen ist das vertikale Format, da es Smartphone-Nutzer nicht zwingt, ihr Gerät um 90 Grad zu drehen. Die 360-Grad-Perspektive weist in Richtung Virtual Reality: Die Videos müssen dann so gestaltet werden, dass das Ansehen mit VR-Brillen einen journalistischen Mehrwert bietet. Besonders eignet sich die Rundum-Perspektive für Events mit vielen Aktivitäten oder ungewöhnliche Umgebungen. Dies stellt aber auch neue Ansprüche an Einordnung und Kommentierung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die virtuelle Rekonstruktion des irakischen Mosul Museum, das 2015 von IS-Kämpfern zerstört wurde. Für das Projekt „RecoVR Mosul” wurden Fotos von lokalen Besuchern, Touristen und US-Soldaten per Crowd-Sourcing gesammelt, um aus ihnen 3-D-Rekonstruktionen zu errechnen. Das Verfahren war in den letzten Jahren für Architekturprojekte entwickelt worden. In dem virtuellen Museum können die Besucher dann eine VR-Führung machen. Begleitend dazu befassen sich zwei Podcasts mit ethischen und juristischen Fragen. Das Projekt wurde inzwischen in „Rekrei” umbenannt und verfolgt weltweit verschiedene Rekonstruktionsvorhaben.
Datenanalyse gleich einem Wissenschaftler
À propos Crowd-Sourcing: Chatbots, also kleine Programme, die einfache Fragen beantworten können, könnten künftig auch Informationen bei den Leser_innen abfragen, die dann zu Meinungsbildern zusammengeführt werden könnten. Ist das schon datengestützter Journalismus? Es gehört zur journalistischen Wertschöpfung, das Erfasste, Gesehene, Gemessene, Gehörte und Gefühlte zu erschließen. Ein Mehrwert entsteht beispielsweise dann, wenn die komplexe Realität analysiert und erklärt wird, um gesellschaftliche Diskurse anzustoßen. Dazu gehört es, den Umfang und die Art der Daten- und Informationserfassung sowie ihre Grenzen und Beschränkungen zu reflektieren – und zu bestimmen, wie weit die journalistische Recherche greifen soll. Journalisten müssen also schon fast wie Wissenschaftler an Datenanalysen herangehen.
Beispielsweise wertet die Berliner Morgenpost die Daten der Berliner Feinstaub-Messstationen aus. Aus diesen Daten werden einfache Informationen generiert und kommentiert. Diese Art von „Sensorjournalismus” basiert auf der Aggregation und Interpretation von Daten. Wie so oft im „Datenjournalismus” werden die Daten aber bislang nicht ausreichend kritisch hinterfragt, da die gelieferten Daten als gegeben hingenommen werden. Unkommentiert bleibt, ob Stationen an wichtigen Straßen fehlen. Offen bleibt, was die generierte Datenmenge über die Luftqualität in der Stadt wirklich aussagt. Dabei liegt die Frage nahe: Warum schlagen sich die bekannt gewordenen Manipulationen von Dieselmotoren beispielsweise nicht deutlicher in den erfassten Werten nieder, die in Berlin über das Jahr größtenteils unter der erlaubten Höchstgrenze bleiben?
Eventuell steckt hinter den schönen Berliner Werten eine größere Geschichte über die Effektivität staatlicher Kontrollorgane. Eine journalistische Datenkontrolle jenseits der automatisierten Content-Generierung könnte sich lohnen: So drohte das Verwaltungsgericht Wiesbaden vor kurzem dem hessischen Umweltministerium ein Zwangsgeld von jeweils 10.000 Euro an, wenn die Luftreinhaltepläne für Wiesbaden und Darmstadt nicht effektiver werden. Durchaus eine Steilvorlage für Berliner Journalisten.
Großer digitaler Bauchladen
Es ist zweifellos eine Zeit der Experimente. Doch Journalist_innen sollten die neuen digitalen Werkzeuge nicht nur aufgreifen, um „das junge Publikum” anzusprechen, das sich mehr und mehr von journalistischen Marken löst, weil es seine Neuigkeiten und Informationen mit Hilfe von Plattform- und Community-Algorithmen kuratiert. Weil im Newsfeed von Facebook oder Twitter Markennamen nach und nach ihre Bedeutung verlieren, wird die Frage immer wichtiger auf diesen Plattformen, wer etwas empfiehlt. Journalistische Produkte können den Kampf um die Aufmerksamkeit dieser Kuratoren nur dann für sich gewinnen, wenn sie etwas Besonderes darstellen.
Das Besondere im Journalismus basiert auch im digitalen Raum auf einem bestimmten Set von Kompetenzen: An erster Stelle stehen Recherche und Monitoring, gefolgt von der Erschließung und Darstellung komplexer Zusammenhänge. Diese müssten verständlich medial umgesetzt werden, um einen Diskurs anzuregen, der journalistisch moderiert werden kann. Für bestimmte Themen und Personen gilt es auf verschiedenen Wegen Aufmerksamkeit und damit Öffentlichkeit herzustellen. Viele Journalist_innen können oft alles irgendwie, doch besonders in großen Redaktionen verlangt diese Anforderungsvielfalt eine Spezialisierung.
Qualität und Originalität sind auch im digitalen Raum Erfolgsfaktoren. Das bedingt erfahrungsgemäß eine Fokussierung auf bestimmte Themen und Werkzeuge. Eine Strategie, die alle Plattformen, alle Tools und jede News umarmen will, wird auf Dauer an Aufmerksamkeit verlieren, da sie aus Ressourcengründen kaum dauerhaft Qualität und Originalität produzieren kann – und sich damit wiederum im Newsfeed von den anderen nicht unterscheidet. Keine Redaktion und kaum ein Verlagshaus wird den gesamten digitalen Bauchladen bedienen können. Für die gesamte Medienbranche sind damit erhebliche konzeptionelle und organisatorische Umbrüche vorgezeichnet.