Ohne mediales Feedback keine gegenseitige Kontrolle der Gewalten
„Hauptaufgabe von Journalisten ist es, Öffentlichkeit herzustellen“, sagt Horst Pöttker, Professor am Institut für Journalistik an der TU Dortmund. Genau dies macht sie zur vierten Gewalt im Staate. Können oder wollen Journalisten ihrer Aufgabe nicht oder nur teilweise nachkommen, werden sie ihrer Kernfunktion nicht gerecht. Genau dies scheint die gegenwärtige Medienkrise so prekär zu machen: Berichten Medien über wichtige Themen nicht, kann ein gesellschaftlicher Diskurs nicht zustande kommen. Und ohne ein mediales Feedback kann in einer Demokratie die gegenseitige Kontrolle der Gewalten nur schwer funktionieren.
Dass Medien wichtige Themen vernachlässigen, ist jedoch nichts Neues. Horst Pöttker beobachtet das als Geschäftsführer der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) seit Jahren. Die INA nominiert seit 1997 jedes Jahr bis zu zehn vernachlässigte Nachrichten und Themen. Dabei greift sie auf Themenvorschläge von Bürgern, Experten und zivilgesellschaftlichen Organisationen zurück, die von studentischen Rechercheseminaren an der TU Dortmund und der Universität Bonn mitunter monatelang überprüft werden. Jedes Jahr sind es neue Nachrichten, doch das Themenspektrum gleicht sich: Komplexe und daher aufwändig zu recherchierende Themen greifen Journalisten nicht gerne auf. Meist stammen sie aus den Bereichen Soziales, Umwelt, Europa, Finanzen, Militär und Entwicklungsländer.
Bereits vor dem Ausbruch der aktuellen Medienkrise bemängelte die INA im vergangenen Jahr, dass „Journalisten weniger recherchieren und sich zunehmend auf PR-Material verlassen“. Unabhängige Information werde so immer seltener. Oftmals sind es allerdings die klassischen Nachrichtenfaktoren, die dafür sorgen, dass Nachrichten die Öffentlichkeit nicht finden – etwa weil ein aktueller Aufhänger fehlt. Ein Beispiel hierfür liefert die aktuelle Top-10-Liste der vernachlässigten Themen: Bis heute ist nicht bekannt, was aus den 255 Millionen Euro aus dem Vermögen der früheren DDR-Außenhandelsfirma „Novum“ wurde, die 2003 der Bundesrepublik zugesprochen wurden. Noch immer werden hohe Teilsummen auf ausländischen Konten vermutet. Die Medien berichteten nur über das Urteil, nicht jedoch „über Mängel und Probleme beim Vollzug der richterlichen Entscheidung nach der Urteilsverkündung“, so die INA. Verschleierungsbemühungen blieben so bis heute erfolgreich.
Themen werden aber auch vernachlässigt, weil in der Berichterstattung ein bestimmter Spin vorherrscht. Ein Beispiel hierfür aus der aktuellen INA-Liste: Noch 2001 diskutierten die Medien intensiv über die Langzeitfolgen von Uran-Munition. Als Reaktion darauf berief das Bundesverteidigungsministerium einen Arbeitstab, merkwürdigerweise unter der Leitung des damaligen Zeit-Chefredakteurs Theo Sommer. Neben Militärs und einem einzigen Wissenschaftler der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik saß mit Nikolas Busse von der FAZ noch ein weiterer Journalist in der Kommission. Der denkwürdig besetzte Ausschuss gab bald Entwarnung – und die Zeit verurteilte sukzessive die angebliche Panikmache der Journalisten. Obwohl die Gefährlichkeit der Uran-Munition bis heute ein völkerrechtlich ungeklärtes Problem ist und die UNO sich erst im Herbst 2008 erneut mit der Frage beschäftigte, gab es seit der Zeit-Schelte zum Thema in den deutschen Medien nur wenige Randberichte.
Über Stereotype zu Feindbildern
Auch die kulturelle Prägung bestimmt darüber, wie Journalisten Themen umsetzen. So sind Migranten beispielsweise in der deutschen Berichterstattung nicht unterrepräsentiert, doch sie werden häufig noch in stereotyper und zumeist negativer Weise dargestellt. Obgleich immerhin jeder fünfte Bundesbürger einen Migrationshintergrund aufweist, ziehen Journalisten für Recherchen weder ausreichend Migranten als repräsentative, „normale“ Bürger heran, noch berichten sie differenziert. Einen Grund hierfür sieht der Soziologe Rainer Geißler von der Universität Siegen darin, dass in den Medien zu wenige Journalisten mit Migrationshintergrund arbeiten. Insbesondere Menschen mit islamischem Hintergrund werden in negativen Stereotypen dargestellt. So titelten Stern und Spiegel mit „Der religiöse Wahn. Die Rückkehr des Mittelalters“, „Neue Serie: Die Wurzeln des Hasses. Mohammeds zornige Erben. 1400 Jahre zwischen Stolz und Demütigung“ oder „Weltmacht Islam“. Politikwissenschaftler Jörg Becker von der Universität Marburg kritisiert die hier üblicherweise verwendete Mischung aus Bildsprache und Symbolen wie Menschenmassen, zornigen Männern und verschleierten Frauen. Die INA kritisiert, dass die Berichterstattung damit Feindbilder aufbaue und Vorurteile, ja sogar Fremdenhass schüre. Ein kulturelles Tabu vermutet die INA dahinter, dass deutsche Medien meist ein idealisiertes Mutterbild vermitteln. So verschwiegen sie in den letzten zwei Jahren, dass immerhin 15 Prozent aller Mütter an postnataler Depression leiden. Weil über die weite Verbreitung dieser gesundheitlichen Folgen nach der Entbindung wenig diskutiert werde, so die INA, blieben zwei Drittel aller Fälle unerkannt und ohne Therapie.
In diesem Jahr wird in der Printpresse der offensichtlichste Grund für die Nicht-Veröffentlichung lapidar „mangelnder Platz“ lauten. Das Anzeigenvolumen ist in den letzten Monaten dramatisch eingebrochen – und damit auch der für die Geschichten zur Verfügung stehende Platz. Geschrieben wird nur noch über das, was der Leser offensichtlich erwartet. Als randständig empfundene Themen haben es schwer. Hinzu kommt, dass Verlage massiv Stellen abbauen und Honorartöpfe für freie Journalisten deckeln oder ganz schließen. Damit beschäftigen sich weniger Köpfe mit eingeschränktem Themenspektrum.
Die jährliche Top-10-Liste INA wird von den deutschen Medien übrigens auch verschwiegen, obgleich die großen Nachrichtenagenturen sie immer aufgreifen. Damit befindet sich die INA in guter Gesellschaft: Auch Peter Philipps, der das amerikanische Schwesterprojekt „project censored“ vor über 30 Jahren gegründet hat, beklagt sich darüber, dass die großen Zeitungen das Projekt totschwiegen. Medienexperte Stephan Russ-Mohl sieht gleichwohl das Projekt im Schatten der Pulitzer-Preise, aber medienpolitisch hält er es für „womöglich die wichtigere Initiative“. Den Grund dafür nennt der amerikanische Medienjournalist Peter Laufer: „Es trägt zur Qualitätssicherung im Journalismus bei, und es macht die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, wie leicht sich Journalismus gezielt beeinflussen lässt.“