Terror wegen Texten im Netz

Journalisten erneut im Visier des Staatsschutzes

Die Verhaftung eines Berliner Soziologen hat in den vergangenen Wochen für Aufsehen gesorgt. Andrej H. war Ende Juli als mutmaßliches Mitglied einer linksextremistischen Organisation mit dem Namen „militante gruppe“ (mg) inhaftiert worden. Dutzende Wissenschaftler aus aller Welt haben seither die Freilassung ihres deutschen Kollegen gefordert, darunter renommierte Forscher wie Richard Sennett, Peter Marcuse und Mike Davis. Anfang Oktober weitete sich der Skandal nun aus. Im Rahmen der Ermittlungen geriet mindestens ein unbeteiligter Journalist ins Visier der Antiterrorfahnder. Gegen die übrigen Angeklagten wurde ein mehr als fragwürdiges Indiz vorgebracht: Sie alle hätten in den vergangenen Jahren in den gleichen Medien und zu den gleichen Themen publiziert.

Die Vorgeschichte: Am 31. Juli waren in Brandenburg drei Terrorverdächtige in einer Blitzaktion festgenommen worden. Axel H., Florian L. und Oliver R. wird der Versuch vorgeworfen, als „mg“-Aktivisten Fahrzeuge der Bundeswehr auf einem Betriebsgelände der MAN AG nahe Berlins angezündet zu haben. Seither sitzen die Beschuldigten unter der Anklage der „Bildung einer terroristischen Organisation“ (Strafrechtsparagraph 129a) in Untersuchungshaft in Berlin-Moabit. Vier weitere Hausdurchsuchungen fanden statt. Dabei wurde der Soziologe Andrej H. festgenommen. Gegen ihn und drei weitere Autoren und Wissenschaftler werden ebenfalls 129a-Verfahren geführt. Kurz nach dieser vierten Festnahme wurden die ersten unglaublichen Details öffentlich.
So sind die Fahnder durch eine Stichwortsuche im Internet auf einen journalistischen Text aus dem Jahr 1998 in der Zeitschrift telegraph gestoßen. Der Autor machte sich in den Augen der Staatsschützer dadurch verdächtig, dass er in einem Text über den Kosovo-Krieg Begriffe verwandt hatte, die auch in Schreiben der „mg“ vorkamen. Neun Worte werden von den Ermittlungsbehörden aufgelistet, darunter Begriffe wie „drakonisch“, „marxistisch-leninistisch“, „politische Praxis“ oder „Reproduktion“.

Intellektuell in der Lage

In einem zweiten Schritt überprüfte das Bundeskriminalamt (BKA) die Redaktion der ostdeutschen Zeitschrift telegraph und fand auch bei anderen Autoren einzelne Begriffe oder Themen, die sich in den umfangreichen Texten der „militanten gruppe“ wiederfinden. Andrej H. verwendete etwa den Begriff „Gentrifizierung“ und schrieb über die Friedensbewegung. Einem weiteren Redaktionsmitglied wird zur Last gelegt, in der Tageszeitung junge welt im Juni 2005 über einen Kongress im Kreuzberger Szenetreff Mehringhof berichtet zu haben. Dabei ging es um die RAF-nahe „Bewegung 2. Juni“. Auch ein Autor der Tageszeitung taz taucht in den Ermittlungsakten auf. Sein Vergehen: Er hatte über die inkriminierte Gruppe berichtet.
Aus einer Recherche in öffentlich zugänglichen Texten entstand so der Vorwurf, die Autoren würden nicht nur journalistische und wissenschaftliche Texte verfassen, sondern seien gar die Urheber der Texte der militanten gruppe. Dazu, argumentiert das BKA weiter, stünden ihm „als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der Texte der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen“. Die Kriminologen des BKA hoben allen Ernstes hervor, dass der Beschuldigte dazu schließlich auch intellektuell in der Lage sei. „Etablieren sich diese Ermittlungsmethoden“, sagte ein Beschuldigter, „werden Menschen, die viel publizieren und recherchieren, immer zuerst und überproportional häufig ins Visier des BKA geraten“.
Die Betroffenen wollen nun mit Hilfe der Gewerkschaft ver.di und Journalistenverbänden gegen Staatsanwaltschaft und Staatsschutz vorgehen. Es dürfe nicht sein, dass man allein durch die Beschäftigung mit einem Thema ins Visier der Antiterrorfahnder gerate, zumal die Betroffenen über Monate massiv überwacht wurden und Andrej H. gut drei Wochen inhaftiert war. Auch die betroffenen Medien prüfen Schritte gegen die verantwortlichen Behörden.

Weitere aktuelle Beiträge

Smart-Genossenschaft für Selbstständige

Smart klingt nicht nur schlau, sondern ist es auch. Die solidarökonomische Genossenschaft mit Sitz in Berlin hat seit ihrer Gründung im Jahr 2015 vielen selbstständig Tätigen eine bessere und stärkere soziale Absicherung verschafft – genau der Bereich, der bei aller Flexibilität und Selbstbestimmtheit, die das selbstständige Arbeiten mit sich bringt, viel zu oft hinten runterfällt.
mehr »

Medienkompetenz: Von Finnland lernen

Finnland ist besonders gut darin, seine Bevölkerung gegen Desinformation und Fake News zu wappnen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Schulen, aber die Strategie des Landes geht weit über den Unterricht hinaus. Denn Medienbildung ist in Finnland eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auf vielen Ebenen in den Alltag integriert ist und alle Altersgruppen anspricht. Politiker*innen in Deutschland fordern, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Kann das gelingen?
mehr »

Beim Tatort selbst ermitteln

Ein Zocker sei er nicht. So sagte es Kai Gniffke, Intendant des Südwestrundfunks (SWR), als er im August vorigen Jahres auf der Gamescom in Köln zu Gast war. Am ARD-Stand hat sich der damalige Vorsitzende des Senderverbunds dennoch zum Zocken eingefunden, zu sehen auch im Stream auf der Gaming-Plattform Twitch. Erstmals hatte die ARD einen eigenen Auftritt auf der weltweit größten Messe für Computer- und Videospiele – ein deutliches Signal, dass die ARD auch auf Games setzt. Und das hat maßgeblich mit dem SWR zu tun.
mehr »

Die unendliche Krise des RBB

Der Schock sitzt nach wie vor tief. „2025 wird ein Schicksalsjahr für den RBB“, so die unfrohe Botschaft von Intendantin Ulrike Demmer Ende Januar auf einer Informationsveranstaltung vor der fassungslosen Belegschaft. Was folgte, war ein radikales Sanierungsprogramm für den Sender. Insgesamt 22 Millionen Euro will die Geschäftsleitung am Personal- und Honoraretat einsparen. Das entspricht 10,2 Prozent der bisherigen Aufwendungen und ziemlich genau 254 Vollzeitstellen.
mehr »