Die neuen Managementtechniken sollen die einzelnen Beschäftigten in eine Position manövrieren, in der nicht mehr von Vorgesetzten gesteuert wird, sondern durch den Druck des Marktes. Das neue Prinzip heißt: „Tut was Ihr wollt (innerhalb Eurer Einheit), aber seid profitabel!“ „Ihr selbst seid für das Überleben Eurer Einheit am Markt verantwortlich und damit für die Sicherheit Eurer Arbeitsplätze!“ Und das Top-Management betreibt gegenüber den Unternehmens-Einheiten eine indirekte Steuerung: durch das Setzen von Rahmenbedingungen.
Vor diesem Hintergrund haben die Betriebsräte von IBM im November 1997 eine bundesweite Aktion „Statt Arbeit ohne Ende – ein Monat der Besinnung“ durchgeführt. Im folgenden stellen sie ihre Überlegungen und ihre Erfahrungen aus dieser Aktion vor – spannende Lektüre auch für Beschäftigte aus Redaktionen, Verlagen und Rundfunkanstalten, egal ob privat oder öffentlich-rechtlich organisiert.
Durch neue Managementmethoden verändert sich die politisch-praktische Bedeutung der tariflichen Arbeitszeitregelung. Gegenüber vertraglichen Vereinbarungen gewinnt mehr und mehr die faktische Verlängerung des Arbeitstages an Bedeutung – und zwar in Gestalt der Verlängerung der Arbeitszeit durch die Beschäftigten selber. Wenn Betriebsräte und gewerkschaftlich Organisierte unter diesen Bedingungen handlungsfähig werden wollen, müssen sie eine Arbeitsweise entwickeln, die diese neue Problemlage aufgreift.
In den letzten Monaten haben Betriebsräte und Beschäftigte der IBM Informationssysteme GmbH erste Ansätzen einer solchen neuen Arbeitsweise entdeckt und praktiziert. Diese praktischen Erfahrungen sind aber nur dann von Nut-zen, wenn sie vor dem Hintergrund der qualitativen Veränderungen in der Unternehmensorganisation analysiert und ausgewertet werden. Wie stellen sich diese Änderungen bei der Regulierung der Arbeitszeit dar?
Das alte Hauptinstrument
Unter den alten Bedingungen war die tarifliche Regelung der Arbeitszeit das Hauptinstrument der Arbeitnehmer zur Verkürzung des Arbeitstages auf das politisch durchsetzbare Maß. Zugleich war sie aber auch das Instrument des Arbeitgebers. Dieser hatte ein eindeutiges und auf der Hand liegendes Interesse an einer maximalen Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit – denn Überschreitungen dieses Maßes kosteten ihn Geld (für Überstunden). Die Stechuhr hatte eine ambivalente Funktion:
- Einerseits war sie Kontrollinstrument des Arbeitgebers (Wird die Arbeitszeit vom Beschäftigten eingehalten?).
- Andererseits war sie Berufungsinstanz des Arbeitnehmers (,Die Zeit ist abgelaufen – ich kann den Arbeitsplatz verlassen ohne Rücksicht auf die Arbeit, die noch zu tun ist’).
Das neue Hauptinstrument
Unter den neuen Bedingungen verlagern sich die Gewichte. Das Hauptinstrument des Arbeitgebers zur effektiven Verlängerung der Arbeitszeit ist die Konfrontation der Beschäftigten mit bestimmten Aufgabenstellungen, die in Auseinandersetzung mit dem Druck des Marktes ,selbständig’ erledigt werden müssen – scheinbar unabhängig von dem zeitlichen Aufwand, der dafür notwendig ist.
Dadurch entsteht eine Situation (vereinfacht formuliert),
- in der die Beschäftigten nicht weiterarbeiten, weil sie noch nicht nach Hause gehen dürfen,
- sondern in der sie weiterarbeiten, weil sie selbst weiterarbeiten zu müssen glauben, weil sonst die Realisierung von Projekten, Geschäftsabschlüssen usw. gefährdet wäre.
Der qualitative Unterschied ist daran abzulesen, daß unter den neuen Bedingungen eine Intervention des Betriebsrats zugunsten der Beschäftigten von diesen als eine Störung bei der Verfolgung ihrer eigenen(!!) Absichten empfunden wird.
Wer muß vor wem geschützt werden?
Unter den alten Bedingungen kam es darauf an, die Beschäftigten vor den Vorgesetzten zu schützen.
Unter den neuen Bedingungen müssen die Beschäftigten lernen, sich vor allem vor sich selbst zu schützen, d.h. vor dem, was mit ihnen unter den neuen Managementformen ,geschieht’.
Die widersprüchliche und schwer durchschaubare Situation der Be-schäftigten führt dazu, daß sich ihre Problemwahrnehmungen ändern.
Was wird als das eigentliche Problem gesehen?
- Das Interesse der Beschäftigten an der vereinbarten Arbeitszeit reduziert sich, weil sie ,sowieso viel länger arbeiten’.
- Wenn die tarifliche Arbeitszeitregelung isoliert genommen wird, geht sie an dem wirklichen Problem der Beschäftigten vorbei, das eben darin besteht, daß die Beschäftigten selbst ihre Arbeitszeit verlängern.
Das Auseinanderfallen der tariflichen Arbeitszeit und der wesentlich höheren faktischen Arbeitszeit führt dazu, daß sich die Beschäftigten für Fragen der tariflichen Arbeitszeit immer weniger interessieren. Die Arbeitgeber versuchen gegenwärtig, diesen Sachverhalt taktisch zu nutzen, um eine Erhöhung der tariflichen Arbeitszeit durchzusetzen! Wenn diesem Angriff erfolgreich begegnet werden soll, muß der Kampf um tarifliche Arbeitszeit in die Auseinandersetzung mit der faktischen Verlängerung der Arbeitszeit eingebettet werden.
Konsequenzen für Betriebsräte, Gewerkschaft
Es kommt daher vor allem darauf an, Arbeitsformen zu finden, mit denen die Auseinandersetzung mit dem entscheidenden faktischen Problem geführt werden kann:
- Warum verlängere ich selbst immer wieder meine Arbeitszeit?
- Warum „hat meine Arbeit kein Ende”?
Die Auseinandersetzung mit dieser Frage muß auch dann geführt wer-den, wenn die Unternehmer die tarifliche Arbeitszeit nicht verlängern wollen. Es ist sogar die Frage, ob man dann, wenn so ein Angriff kommt, überhaupt politisch handlungsfähig ist, wenn nicht vorher schon eine Auseinandersetzung mit dem wirklichen Problem im Gange ist. Darauf kommt es entscheidend an!
Was kann der Betriebsrat tun?
Die entscheidende Frage lautet:
- Wie kann der Betriebsrat den Beschäftigten helfen, sich vor sich selbst zu schützen?
- Und wie kann der Kampf um kürzere tarifliche Arbeitszeiten in diesen Prozeß einbezogen werden?
Die Voraussetzung für eine Aktivierung der Beschäftigten unter diesen Bedingungen und in dieser Hinsicht ist ihre Auseinandersetzung mit der Instrumentalisierung ihres eigenen Willens für den Unternehmenszweck.
Es kommt darauf an, daß die Beschäftigten zur Besinnung kommen und selber merken, wie die Unternehmerfunktion in ihren eigenen Kopf hineinrutscht und sie gegen sich selbst aktiv werden.
Dieses Paradoxon ergibt sich aus der neuen faktischen Situation der Beschäftigten: Sie sind unmittelbar mit den Rahmenbedingungen ihrer Unternehmens-Einheit konfrontiert und sie selbst müssen Tag für Tag unternehmerische Probleme lösen. Diese veränderte faktische Situation hat die irritierenden Phänomene zur Folge.
Die faktische Situation der Mitarbeiter/innen muß in der Form thematisiert werden, in der sie als drängendes Problem erfahrbar wird:
- meine Arbeit hat kein Ende
- es zerreibt mich, der Druck verfolgt mich, er zerreibt meine Gesundheit
- die Arbeit drängt fast alle Freizeit zurück, wo findet mein eigenes Leben noch statt?
- ich stehe vor dem unternehmerischen Problem, ich werde es nicht los
- ich soll Probleme lösen, für die mir die Ressourcen fehlen
- die ständige und systematische Überforderung
Je stärker es gelingt, diese neue Situation zu thematisieren, umso eher ist es möglich, die scheinbar rein individuelle Form des Problems zu durchbrechen. Der Mechanismus, mit dem ich als Beschäftigter systematisch in diese Situation gebracht werde, muß für mich durchschaubar werden.
Meine individuellen Gefühle der Angst, des schlechten Gewissens und mein Verdacht auf individuelle Unfähigkeit muß als das Wirksamwerden eines bewußt herbeigeführten Prozesses erfahren werden, der sich über meinen eigenen Kopf hinweg Bahn bricht. Je klarer der reale Prozeß und die reale Belastung in der betrieblichen Diskussion ist, umso klarer werden die Sprüche von der angeblich notwendigen Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit durchschaut werden.
Erfahrungen im Juli 1997
Im Juli 1997 ist es bei der IBM Informationssysteme GmbH gelungen, die Empörung der Techniker zu mobilisieren gegen die Absicht der IBM Geschäftsführung, die tarifliche Arbeitszeit von 38 auf 41 Stunden zu erhöhen. So entstand in einigen Betrieben der IBM ein brisantes öffentliches Klima und diese Stimmung konnten in anonymisierten Mitarbeiter-Feedbacks ganz authentisch an die Geschäftsführung transportiert werden. Der IBM gelang es nicht, die für die Techniker geplante Erhöhung der Arbeitszeit durchzusetzen.
Erfahrungen im November 1997
In der Aktion „Monat der Besinnung“ wurden von IBM Betriebsräten weitere Formen entdeckt und erfunden, in denen das reale Problem thematisiert werden kann: das Problem von „Angst & Arbeit ohne Ende“. Die starke Resonanz der Beschäftigten (insbesondere in den Niederlassungen Düsseldorf und Stuttgart) hat auch die Betriebsräte überrascht.
Dieses reale Problem war selbstverständlich schon Monate und Jahre vorher da, aber zum ersten Mal ist es in einer geeigneten Weise aufgegriffen worden. Es wurde zu einem gemeinsamen Thema im Betrieb, es hat sich das Klima im Betrieb verändert.
Die eigenen Erfahrungen begreifen!
Ein Anfang einer neuen Arbeitsweise wurde also in den letzten Monaten gefunden! Jetzt kommt es darauf an, die Gründe der zurückliegenden praktischen Erfolge zu erkennen. Es gilt, die eignen Erfahrungen wirklich zu begreifen.
Der Betriebsrat der IBM Düsseldorf hat dies in einem vierzehnseitigen Papier versucht:
Dokumenation des BR IBM Düsseldorf:
Die Transformation der IBM
- Worum geht es im Kern?
- Was geschieht mit mir als Mitarbeiter/in?
- Was kann ich tun?
Wenn das reale Problem der politischen Handlungsfähigkeit gegenüber dem massiven Angriff der Arbeitgeber auf die tarifliche Arbeitszeit erfaßt werden soll, dann gehört alles dazu, was die Mitarbeiter dazu bringt, ihre Arbeitszeit selber zu verlängern: das schlechte Gewissen, die Angst, der Verdacht einer individuellen Unfähigkeit, die Auswirkungen desShareholder-Value-Mechanismus an mir selbst.
Was schwer zu verstehen ist
Wer nicht unter den neuen Bedingungen arbeitet und diese Mechanismen nicht am eigenen Leib und nicht im eigenen Kopf verspürt, der stellt sich schnell die Frage: „Warum tun die Beschäftigten das? Warum verlängern sie selbst ihre Arbeitszeit ohne Ende?“ Noch schwerer zu verstehen ist es für einen Außenstehenden, warum sich die Kolleg/inn/en aus dieser Drucksituation fast gar nicht befreien können: „Wenn sie den Zusammenhang durchschaut haben, dann wäre doch das Problem gelöst“. Aber das ist nicht der Fall! Im Betriebsrat der IBM Düsseldorf wird dieses Thema seit vier Jahren bearbeitet. Die Düsseldorfer Betriebsräte haben die Mechanismen weitgehend durchschaut und doch berichten jene BR-Kolleg/inn/en, die in ihrem Job unter den neuen Bedingungen arbeiten, daß ihnen dieses Wissen kaum hilft. Der Druck bleibt, sie kommen aus dem Teufelskreis nicht heraus. Daher wäre es illusorisch, dieses faktische Problem mit einer „Aufklärungs-Kampagne“ lösen zu wollen (Nach dem Motto: Irgendjemand erklärte den Zusammenhang und dann sei das Problem gelöst). Dieses Wissen allein genügt noch nicht.
- Ich als Beschäftigte/r muß für mich selbst ein neues praktisches Verhältnis zu der Situation schaffen.
- Es geht wesentlich um eine Veränderung des faktischen Verhaltens eines/einer jeden.
Individuelles und Gemeinsames
Wenn wir aber die Aufgabe so formulieren, dann klingt sie unlösbar und sofort kommt die Frage: „Wie soll das jemals geschehen, daß hinreichend viele Menschen sich mit sich und der Situation auseinandersetzen?“ Im „Aktions-Monat der Besinnung“ ist erfahrbar geworden, wie das geschehen kann:
- Denkanstöße des Betriebsrates,
- individuelle Auseinandersetzungen mit dem Problem,
- das gemeinsame Reden der Kolleg/inn/en über ihre Ängste und
- der Austausch über die eigenen Versuche eines anderen Handelns – all das hat gezeigt, wie Individuelles und Gemeinsames auf neue Weise zusammenwirken können.
Die Dokumentation des Betriebsrates Düsseldorf will zeigen, wie die neue Arbeitsweise aussehen könnte und welche ersten Schritte in diesem problematischen Neuland getan worden sind.
* Dieser Artikel erscheint ebenfalls in der Beilage „Betriebliche Praxis“ in IG Medien Forum Nr. 6/98.