Kein Fastfood

„Vollwertiges Lesefutter“ gab es in der gläsernen Redaktion

Eine Mobilisierung und Streikbereitschaft wie in dieser Tarifrunde hat es seit langem nicht gegeben. Bundesweit haben sich an der breiten Streikbewegung Tausende Redakteurinnen und Redakteure, Volontäre sowie freie Journalist/innen engagiert und die von den Verlegern angestrebte Abwertung des Journalistenberufs verhindert. Unterstützt wurden sie von Kolleg/innen aus Verlagen und Druckereien wie der Frankfurter Societäts-Druckerei. Vor allem der Einfallsreichtum und die Kreativität, mit der die Öffentlichkeit über den Tarifkonflikt informiert wurde, waren beeindruckend.


So nutzten streikende Redakteur/innen eine Jubiläumsfeier im Druckhaus der Neuen Westfälischen in Bielefeld, um gegen die Forderungen der Tageszeitungsverleger zu protestieren: „Ihr feiert, wir nicht“ und „Sekt für Euch, minus 25 Prozent für uns“, mit diesen Slogans empfingen mehr als 80 Journalist/innen aus der Region Ostwestfalen-Lippe am 11. April in Bielefeld die Gäste der Jubiläumsfeier – darunter Bundespräsident Christian Wulff und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. (M 4–5/2011)
Ungewöhnlichen Lesestoff bekamen die Borussen-Fans, die zum Saisonauftakt ins Stadion strömten, in die Hand gedrückt: Streikende Kolleginnen und Kollegen aus Dortmund informierten über die Streiks und den Wert des Journalismus.
In Mannheim gaben die Kolleg/innen vom Mannheimer Morgen dem Begriff „Straßenzeitung“ eine neue Bedeutung. Eine riesige Zeitung wurde am 22. Juli auf dem Pflaster vor einem Infostand auf dem Mannheimer Marktplatz ausgebreitet: Das „Titelfoto“ dokumentierte eine eindrucksvolle Aktion im Rhein gegen die Sparwut der Verleger mit dem Motto „Der Journalismus geht baden“. Mit der riesigen Streikzeitung, die nur von etwa 30 Redakteuren getragen werden konnte, zogen auch die Redakteur/innen der Südwest Presse durch die Ulmer Fußgängerzone.
Überhaupt erwiesen sich die Streikzeitungen als wichtiges Instrument in der Auseinandersetzung. Viele Verlage kamen ihrer Informationspflicht nur ungenügend nach. Zahlreiche Verleger setzten darauf, den Tarifkonflikt totzuschweigen. Dass Tageszeitungsredakteure streikten wurde kaum berichtet und wenn, dann oft nicht differenziert genug. Die Redakteure verdienen gut und verlangen mehr Geld, war zu lesen, kurz, prägnant, aber eben nicht ganz richtig. Deshalb mussten es die Streikenden in die eigenen Hände nehmen, die Öffentlichkeit über ihr Anliegen zu informieren.
In zahlreichen Städten, vor allem im Südwesten, wurden Fußgängerzonen zu Redaktionsstuben umfunktioniert, zahllose Gespräche mit Passanten geführt, Flugblätter oder Streikzeitungen verteilt und regionale Größen aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und den Kirchen über den außergewöhnlichen Tarifkonflikt informiert nach dem Motto: Wer, außer manchen Fußballvereinen, führt schon ausschließlich Abwehrkämpfe?
Schauspieler, Künstler und Journalisten haben in mehreren Aktionen gemeinsam für Qualitätsjournalismus geworben. Im Skulpturenpark der Mannheimer Kunsthalle setzten sich Redakteure, Volontäre und freie Mitarbeiter des Mannheimer und Südhessen Morgen sowie der Fränkischen Nachrichten für die Anerkennung ihres Berufsstandes ein und zeigten in der Nacht vor den Tarifverhandlungen in Hamburg die Kunst- und Protext-Aktion „Worte sind wertvoll“ auf der Fassade des Museums. In München gab es eine gemeinsame „Worte sind wertvoll“-Inszenierung von Redakteurinnen und Redakteuren der Süddeutschen Zeitung und der tz auf dem Marienplatz. Zur Entschädigung für die fehlenden gedruckten Worte wurden gebackene Worte an die Passanten verteilt. Den Reigen der Projektionsaktion „Worte sind wertvoll“ hatten bereits Mitte Juli Journalisten aus Bayern und Baden-Württemberg in Augsburg eröffnet. Sie machten mit ihrer Kundgebung darauf aufmerksam, dass Medienberichterstattung nur dann qualitativ hochwertig und politisch unabhängig ist und bleibt, wenn sie Wertschätzung erfährt. In fünf „Augsburger Thesen“ formulieren die Initiatoren ihr Anliegen. www.wortesindwertvoll.de
In Regensburg informierten die streikenden Kolleg/innen der Mittelbayerischen Zeitung die Öffentlichkeit auch gleich über die beabsichtigte Tarifflucht ihres Arbeitgebers. Unterstützung bekamen sie dabei aus Weiden und Amberg.
Zu einem „Klimagipfel in Bremerhaven – nur faire Tarife sichern ein gutes Klima“ schipperten die Kolleginnen und Kollegen von Weser Kurier und Bremer Nachrichten auf der „Oceana“ nach Bremerhaven, um sich dort mit den Kolleg/innen der Nordsee Zeitung auszutauschen.
In Hamburg trafen sich Streikende der Hamburger Morgenpost mit Streikenden der Bergedorfer Zeitung vor dem Springerhaus. In Suhl, Salzungen und den Orten der Lokalausgaben der Zeitungen in Südthüringen gingen die Journalisten statt zur Redaktionskonferenz auf die Straße und suchten Kontakt mit ihren Leser/innen.
In Berlin protestierten um 5 vor 12 etwa 70 Journalisten vor dem Berliner Verlagshaus Axel Springer. Auch Beschäftigte der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau waren in Berlin und Frankfurt bei Soliaktionen auf der Straße.
Unter dem Motto „Der Journalismus darf nicht baden gehen“ haben sich am Tag vor der zehnten Verhandlungsrunde etwa 300 Redakteure aus Bayern und Baden-Württemberg auf einer Donaubrücke zwischen dem württembergischen Ulm und dem bayerischen Neu-Ulm zu einer länderübergreifenden Protestaktion getroffen. Bei ihrer Aktion auf der Herdbrücke haben die Demonstranten eine große Tafel mit den Buchstaben „ZEITUNG“ über das Geländer gehievt und in Richtung Fluss gesenkt, sie aber nicht untergehen lassen. Die Zeitung gerettet, zog der Protestmarsch mit Trillerpfeifen und Rätschen unüberhörbar weiter zu einer Kundgebung auf dem Ulmer Marktplatz.
Etwa 80 Kolleg/innen vom Herforder Kreisblatt, Haller Kreisblatt, Neue Westfälische, Westfälische Volkszeitung und der Lippischen Landeszeitung beteiligten sich am 1. August an einem Autokorso durch Bielefeld nach Hörste zur Streikversammlung in der verdi-Bildungsstätte in Lage-Hörste.
Mehr als 30 Tage streikten die Kolleginnen und Kollegen der Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung. Während dieser langen Zeit bewiesen sie einen Einfallsreichtum, der seinesgleichen sucht. Mal zog in der gläsernen Redaktion der Fernsehkoch Vinzenz Klink Parallelen zwischen Küchen und Redaktionsstuben („Lieber vollwertiges Lesefutter als Fast Food“), dann sorgten Streikende auf dem Stuttgarter Schlossplatz mit einem Flashmob und einem Sprechchor in roten T-Shirts für Aufmerksamkeit, ein anderes Mal unterstützte ein Zauberer die Streikenden. Zur Hamburger Verhandlung gab’s auf dem Stuttgarter Schlossplatz eine Streikshow mit Paukenschlägen von „Willi, dem Trommler“ und Auftritten stimm- und wortgewaltiger Musiker und Poeten.
In Mannheim haben Xavier Naidoo und weitere Bandmitglieder der „Söhne Mannheims“ mit anderen Künstlern für die streikenden Journalisten in Mannheim ein Gratiskonzert in der Innenstadt gegeben. „Qualitätsjournalismus ist wichtig für die Demokratie“, rief der 39-Jährige bei dem halbstündigen Auftritt in seiner Heimatstadt. In Wetzlar forderten die Journalist/innen nach erfolgreicher Urabstimmung den Verlegerverband per Resolution auf, endlich das Tarifwerk 2 zu beerdigen.
Die streikenden Redakteur/innen in Baden-Württemberg haben einen Offenen Brief an die Zeitungsverleger geschrieben. Dort heißt es unter anderem: „Was uns besonders wehtut, ist Ihre Absicht, Neu-Einsteiger in diesen Beruf mit bis zu 25 Prozent weniger zu entlohnen. Eine Branche, die sich für junge, engagierte Bewerber unattraktiv macht, erklärt sich selbst zum Auslaufmodell. Billigjournalismus ist keine Methode, um für Leser attraktiv zu bleiben. Langfristig schadet das auch der Demokratie. So werden Sie der gesellschaftlichen Verantwortung, auf die Sie sich sonst gerne berufen, nicht gerecht.“

Ebenfalls direkt an die Verleger wendete sich eine Postkartenaktion. In zahlreichen Orten in Baden-Württemberg wurden an Infoständen vorgefertigte Postkarten an Zeitungsabonnenten verteilt, die diese dann an die Verlage schicken konnten: „Beim Lesen der Zeitung bekomme ich in diesen Tagen einen Eindruck, was der Begriff Billigjournalismus bedeutet. Ich bin überzeugt, dass guter Journalismus gut bezahlt werden muss. Deshalb fordere ich Sie auf, auf Kürzungen bei den Redakteursgehältern zu verzichten. Sonst sehe ich die Qualität meiner Tageszeitung in Gefahr.“
Etwa postkartengroß waren auch die Papiere, die Aktive in etlichen Verlagen Ost-Westfalens „verloren“ haben und so mit Kolleg/innen ins Gespräch gekommen sind. Beschriftet waren Vorder- und Rückseite. Außerdem klebte vorne ein Schoko-Bärchen oder ein Schoko-Hase. Wichtig: es sollte nur eine Handvoll dieser Botschaften in den Verlagen verloren werden, die dann „Guck mal, was im Flur lag“ weitergereicht werden.
Informativ und ohne viel Aufwand zu realisieren war die Abwesenheitsmail einer Streikenden in Baden-Württemberg: „Liebe Kollegen und Freunde, gemeinsam mit meinen Kollegen streike ich am Donnerstag und Freitag gegen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, gegen ein neues Tarifwerk für junge Redakteurskollegen und für eine gerechte Bezahlung von sehr viel und sehr engagiert geleisteter Arbeit. Am Montag, 30. Mai, bin ich wieder erreichbar. Herzlich grüßt …“

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

„Das Problem mit der Leidenschaft“

Lena Hipp ist Professorin für Soziologie an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit M sprach sie über „Gute Arbeit“, Stressoren im Journalismus und weshalb die Trennung von Arbeit und Privatleben für Medienschaffende so wichtig ist.
mehr »

Die Verantwortung der Redaktionen

Auf die mentale Gesundheit zu achten, ist keine individuelle Aufgabe. Auch Arbeitgeber*innen können und sollten etwas für psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen tun. Wie funktioniert das in einer Branche, die so geprägt ist von Zeit und Leistungsdruck und belastenden Inhalten wie der Journalismus? Wir haben uns in zwei Redaktionen umgehört, die sich dazu Gedanken gemacht haben: das Magazin Neue Narrative und der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag (SHZ).
mehr »

Gewalterfahrung im Lokaljournalismus

In Deutschland hat sich die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf Journalist*innen deutlich erhöht. Viele der Übergriffe finden am Rande von Demonstrationen statt. Der Thüringer Journalist Fabian Klaus recherchiert zu Rechtsextremismus und wird deshalb bedroht. Mit M sprach er über zunehmende Bedrohungslagen im Lokaljournalismus und die Unterstützung aus den Redaktionen.
mehr »

Media Hub Riga: Ein sicherer Ort

Wer den Media Hub Riga besuchen will, bekommt vorab von Leiterin Sabīne Sīle die Anweisung, die Adresse nicht weiterzugeben und keine Fotos zu machen, die seine Lage preisgeben. Drinnen wartet die alltägliche Atmosphäre eines Büros. Der Media Hub wirkt wie ein gewöhnlicher Co Working-Space – nur freundlicher. An den Wänden hängen Fotos von lächelnden Menschen am Strand, eine Girlande aus Orangenscheiben schmückt den Flur. Luftballons, auf denen „Happy Birthday“ steht, zeugen von einer Geburtstagsparty.
mehr »