Moderne Zeiten

Unser hochgeschätzter, väterlicher Kollege vom Feuilleton kann sich das heute noch leisten: Er diktiert seine Werke der Sekretärin in den Stenoblock. Sie tippt den Artikel mit der Schreibmaschine ab, gibt ihn in die Texterfassung, wo er ins Redaktionssystem geschrieben wird, und weil sich im Feuilleton niemand mit den Niederungen der technischen Welt beschäftigt und den Begriff Ganzseitenumbruch auch nur definieren könnte, placiert ihn ein Kollege vom Layout auf der Zeitungsseite.

Die Artikel sind fast immer ein Lesevergnügen und in der Regel mehr Bildungsgewinn als ein Proseminar in Theaterwissenschaft. Wären sie das auch noch, wenn besagter Kollege sich den modernen Produktionsbedingungen unterwerfen müßte? Wir wissen es nicht, unterstellen aber mal, daß Idee und Materie verwoben sind, der Gedanke nicht vom Prozeß seiner Materialisierung zu trennen ist.

Junge Kollegen, die neu eingestellt werden (auch im Feuilleton!), müssen unterschreiben, daß sie sich den technischen Produktionsbedingungen anpassen, dazu gehört das Layout und – wir stehen vor der Einführung des Computer-to-plate-Verfahrens – bald die Endkontrolle der Zeitungsseite bis zur Druckreife. Freie Mitarbeiter schicken ihre Texte via Internet, es gibt kein Korrektorat mehr, das Layout steht nur noch für graphische Sonderaufgaben zur Verfügung, die Repro wurde mit Abfindungen in den Vorruhestand oder die Arbeitslosigkeit entlassen, Fotografen schicken ihre Bilder digital ins Netz.

Und wer bearbeitet alle diese Daten? Der Redakteur, die Redakteurin. Niemand sonst. Er/sie merzt zuerst die Übertragungsfehler der Software aus, dann die orthographischen des Mitarbeiters, versucht den Text sprachlich und inhaltlich ins Reine zu bringen, layoutet die Seite am Bildschirm inclusive Anzeigenformaten, läßt Texte in die vorgesehenen Bausteine einfließen, telefoniert täglich mit der Computer-Hotline, um die abgestürzte Maschine wieder zum Laufen zu bringen, scannt Bilder, bearbeitet sie am Bildschirm, stellt sie ebenfalls auf die virtuelle Seite, versucht zwischendurch vielleicht noch, mit dem Mitarbeiter zu telefonieren, um Recherchelücken zu schließen, titelt, macht die Bildunterschriften, druckt sich die fertige Seite kurz vor Redaktionsschluß einmal aus, schaut drüber und gibt sie für den Druck frei.

Da wundere sich noch einer, daß immer weniger Redakteure sich mit Recherche, gar investigativem Journalismus, oder den Verästelungen in der Neuinszenierung einer griechischen Tragödie befassen können. Das tun die Freien. Sie kosten auf jeden Fall weniger, selbst wenn die Verlage demnächst Sozialabgaben für sie bezahlen müssen. Die Investition in das teure und pflegebedürftige Redaktionscomputersystem muß sich schließlich amortisieren.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Wehrhaft gegen Einschüchterungen

Unternehmen oder ressourcenstarke Einzelpersonen, die unliebsame Stimmen mittels Abmahnungen bis hin zu langwierigen, teuren Prozessen einzuschüchtern und so eine kritische Öffentlichkeit für einen Sachverhalt zu verhindern suchen. Viele Journalist*innen, Forschende oder Umweltaktivist*innen kennen dieses Phänomen unter dem Begriff SLAPP. Eine neue Anlaufstelle in Berlin will für Betroffene Abhilfe schaffen.
mehr »

Neue Anlaufstelle: Erste Hilfe bei SLAPPs

Was tun, wenn man geslappt wird? Ab dem 16. Mai gibt es eine Anlaufstelle für SLAPP -Betroffene. SLAPPs sind unbegründete Einschüchterungsklagen oder missbräuchliche Gerichtsverfahren. Gegen die hat die EU eine Anti-SLAPP-Richtlinie verabschiedet. Binnen zwei Jahren müssen die Mitgliedsstaaten nun die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Hinter der von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderten Anlaufstelle steht ein breites Bündnis; Ansprechpartner ist Philipp Wissing.
mehr »

KI-Film über düstere deutsche Zukunft

Das dreiminütiges Science-Fiction-Video „Oma, was war nochmal dieses Deutschland?“ hat ein enormes Medienecho ausgelöst. Darin zeigt der Produzent und Podcaster Andreas Loff eine Dystopie aus dem Jahr 2060: eine fiktive rechtsextreme Partei mit dem Namen „Die Blauen“ hat in Deutschland die Macht übernommen und das Land nach massenhaften Abschiebungen vollkommen ruiniert. Eine alte Frau, gesprochen von Anna Thalbach, erzählt ihrer Enkelin an einer fernen Küste, wie es einst mit ihrer deutschen Heimat abwärts ging. Wir sprachen mit dem Macher Andreas Loff über den Film und den Einsatz der KI.
mehr »

Über Rechtsextreme reden – aber wie?

Medien können eine schützende Rolle dabei spielen, rechtsextremen Tendenzen entgegenzuwirken und die Demokratie zu stärken. Handlungsempfehlungen dafür haben Pia Lamberty und Maheba Goedeke Tort im CeMAS-Policy-Brief „Über Rechtsextreme reden? Empfehlungen für die mediale Berichterstattung“ zusammengestellt. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass sich auf der einen Seite rechtsextreme Parteien radikalisieren. Gleichzeitig finde eine gesellschaftliche Normalisierung rechtsextremer Positionen und Erzählungen statt. 
mehr »