Alles Boulevard oder was?

„Frau in Säure aufgelöst“, „Wir sind Papst“, „Rudi haudi Saudi“ – wo solche Headlines auftauchen, ist der Boulevard nicht fern. Seine besten Zeiten scheinen vorbei. Wie andere Tageszeitungen leiden auch die Boulevardblätter unter der strukturellen Zeitungskrise.

Von einer generellen Krise des Boulevardjournalismus kann dennoch keine Rede sein. Denn er wuchert längst auch in anderen Medien, vor allem online und im TV.

„Be-Zett! Be-Zett am Mittag! Das war der erste Lebensschrei, die Geburt einer neuen Zeitung, die mit der Forschheit eines echten Berliner Kindes auch sogleich ihr Lebensrecht durchsetzte“. Mit solcherlei Pathos pries Gustav Kauda als stellvertretender Chefredakteur im Jahre 1927 Deutschlands erste Boulevardzeitung. Da hatte das am 22. Oktober 1904 erstmals erschienene Blatt schon 23 Jahre auf dem Buckel und schickte sich an, die 200.000er Auflage zu übertreffen. Mit der heutigen B.Z. hat das 1933 von den Nazis gleichgeschaltete, zehn Jahre später eingestellte und 1953 von Axel Springer wiederbelebte Blatt allerdings wenig zu tun. Und auch Auflagenrekorde bricht die aktuelle B.Z. längst nicht mehr. Vielmehr hat sie Mühe, sich im Haifischbecken des hauptstädtischen Zeitungsmarktes zu behaupten. Derzeit werden täglich etwas mehr als 150.000 Exemplare abgesetzt. Allein in den vergangenen zwei Jahren verlor das Blatt an die 30.000 Käufer, damit ging fast jeder sechste von der Fahne.
Ein besonders dramatischer Einbruch, aber beileibe kein Einzelfall. Alle acht in der Bundesrepublik erscheinenden Kaufzeitungen verlieren an Auflage, teilweise weit über dem Durchschnitt aller Tageszeitungen. Auffällig: Gerade die Publikationen des Axel Springer Verlags führen das Negativ-Ranking dieses Pressesegments an. Größter Verlierer in absoluten Zahlen sind Bild und Bild am Sonntag. Allein die Nachfrage nach Bild sank in den letzten beiden Jahren um 350.000 Exemplare, was einem Einbruch um 11,4 Prozent entspricht. Zum Vergleich: Während der Hochzeit der Außerparlamentarischen Opposition verkaufte das Blatt mit den großbalkigen Headlines stabil knapp fünf Millionen Exemplare. Dann begann der Abstieg. Nach der Wende, als die ostdeutschen Leser sich neugierig auf diesen Zeitungstyp stürzten, knüpfte Bild vorübergehend an diese Glanzzeiten an. In dieser Phase wetteiferte man mit der vom Burda-Verlag speziell für die Neuen Länder entwickelten Boulevardzeitung Super. Ein Titel, der Anfang Mai 1991 mit einer Startauflage von 500.000 erschien, aber knapp 14 Monate später nach einem ruinösen Preiskrieg mit Springer wieder vom Markt verschwand. Pressegeschichte schrieb Super unter Chefredakteur Franz-Josef „Gossen-Goethe“ Wagner, der das Blatt mit Schlagzeilen wie „Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen – Ganz Bernau ist glücklich!“ ins Gespräch brachte. Ein beschämendes pressegeschichtliches Kapitel der Nachwendezeit, das der damalige Geschäftsführer und spätere Focus-Chef Helmut Markwort („Fakten, Fakten, Fakten“) schon kurze Zeit nach dem Super-Aus als Unerheblichkeit „aus dem Medienmuseum“ kleinreden wollte. Inzwischen sind von den damals verkauften 4,7 Millionen Bild-Exemplaren nur noch 2,7 Millionen übrig geblieben.
Natürlich unterliegt die Boulevardpresse wie die meisten Printerzeugnisse der tendenziellen Abschwächung des Geschäfts durch die erstarkende Konkurrenz digitaler Medien. Das erklärt aber nicht die deutlich überproportionalen Auflagenverluste gerade der Produkte, die mit knalligen Schlagzeilen, großformatigen Fotos und einer kruden Mixtur aus (wenig) Politik und Lebenshilfe, aber umso mehr Sex und Crime über Jahrzehnte die Leserschaft bei der Stange hielten.
Wo also liegen die Ursachen für die Krise der Kaufzeitungen? Eine einfache Erklärung drängt sich auf: An der Transformation immer größerer Teile der Medien in einen großen Boulevard. Boulevard, daran sei erinnert, bedeutet „große Straße“, eine Boulevardzeitung ist demnach eine Zeitung, die an der Straße, am Kiosk gekauft werden muss. Denn im Gegensatz zu den Abonnementszeitungen wird sie nicht nach Hause geliefert. Um in der Sprache der Werbewirtschaft zu reden: Diesen „unique selling point“ oder USP hat die Boulevardpresse seit geraumer Zeit verloren. Boulevardinhalte werden heute mehr denn je frei Haus geliefert. Ob Internet, TV oder mobile Dienste – überall werden die Freunde einer eher emotionalisierten Berichterstattung leicht fündig.
Das beginnt schon mit den Online-Ablegern der Kaufzeitungen selbst: Im Zeichen der vom Internet kultivierten Schnorrerkultur verzichten Einkommensschwache vermutlich tendenziell auf den Gang zum Kiosk und bedienen sich gleich bei bild.de und anderen Quellen. Dort wird die Welt in eine Wundertüte aus reißerischen Headlines, bunten Allerwelts-Videos, flackernden Werbebannern und mehr oder weniger originellen User-Kommentaren verwandelt. Frappierend an dieser Entwicklung: Sie ist längst nicht mehr auf die originären Boulevard-Medien beschränkt. Im Internet-Zeitalter erliegen auch Medien, die sich einst als Gralshüter eines seriösen, aufklärerischen Journalismus verstanden, der Versuchung, ihren Online-Auftritt nach gänzlich anderen Kriterien zu gestalten.
Bestes Beispiel ist Spiegel Online. „Im Milieu des traditionsbewussten Tagesjournalismus spielt Spiegel Online die Rolle des geachteten Flegels“, bemerkte bereits 2007 der im vergangenen Jahr verstorbene Journalist und Blogger Robin Meyer-Lucht. Dass die Website seit Jahren mit bild.de um die Online-Marktführerschaft bei den Informationsmedien ringt, hat offenbar einen Preis. Ergebnis ist eine Themenmischung, bei der eine Meldung über Waffenkauf durch syrische Rebellen nahezu unvermittelt neben einem bunten Beitrag über „Kritik an Kate: Zu viele Klamotten von der Stange“ steht, wo neben dem Auktionsweltrekord mit Munchs letztem „Schrei“ ein Video mit Bildern von einem US-Schiffsunglück lockt. Der frühere Spiegel-Online- und heutige Spiegel-Chef Mathias Müller von Blumencron soll dieses Prinzip einmal als „Schwingen“ der Website bezeichnet haben, als durchkomponierte Mischung aus nachrichtlichem, analytischem und unterhaltendem Journalismus.
Das Urteil von Meyer-Lucht, der bei Peter Glotz über „Wettbewerbsstrategien von Nachrichtensites“ promovierte, fiel kritischer aus: „Spiegel Online hat die Grenzen zwischen Nachrichten, Boulevard, Feuilleton, Reportage und Kommentar niedergerissen. Die Trennung von Qualitäts- und Boulevardjournalismus ist porös geworden.“ Vielleicht ist seitdem manches korrigiert worden. Aber Meyer-Luchts Frage nach der „Angemessenheit“ des typischen Story-Journalismus des Internet-Ablegers von Augsteins einstigem „Sturmgeschütz der Demokratie“ bleibt aktuell: „Kann Spiegel Online sein Millionenpublikum verantwortungsvoll und meinungsbildend informieren? Oder entführt die Site ihre Leser vor allem in ein Gag-Universum mit hohem Erregungs- und Zerstreuungswert?“
Diese Frage lässt sich mit einiger Berechtigung auch an die Programmverantwortlichen des Mediums Fernsehen richten. Auch dort wird der Informationsbereich zunehmend mit Unterhaltungselementen verbunden. Der Schweizer Medienwissenschaftler Heinz Bonfadelli spricht in diesem Zusammenhang von einer „Tendenz zum Infotainment als Boulevardisierung der Information“. Den vorläufigen traurigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Genre der Doku-Soap, also pseudodokumentarischen Formaten wie „Familien im Brennpunkt“, „Mitten im Leben“ oder „Die Schulermittler“ (alle bei RTL). Ausgestellt wird da eine Parallelwelt, bevölkert von schlagenden Vätern, betrunkenen Müttern und schwangeren Teenies. „Sozialporno“ nennt Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Uni Tübingen, derlei Machwerke, in denen die Protagonisten auf „Schlüsselreize der Sexualität, der Intimität, des Privaten, des Primitiven, des Vulgären, des Absonderlichen“ reduziert werden oder sich selbst reduzieren lassen.
ARD und ZDF senden in diesem Zeitfenster Formate wie „Brisant“, „Leute heute“ und „Hallo Deutschland“, klassischen Boulevard aus People-Journalismus und Blaulicht-Geschichten. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben es aber angesichts so scharfer Kost der Privaten immer schwerer, das Publikum für die eigenen seriösen Doku-Angebote zu begeistern. In der Prime Time haben sie diesen Anspruch ohnehin weitgehend aufgegeben. Dort dominieren Talk-Formate (in jüngster Zeit immer häufiger mit Verbraucherthemen), Quiz-Shows und „frauenaffine“ Degeto-Produktionen. Letztere befördern eher eskapistische Tendenzen als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der sozialen Realität. Dabei wäre das ein allemal lohnendes Unterfangen.
„In einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft verliert das Individuum den Überblick“, schreibt der Potsdamer Fernsehwissenschaftler Lothar Mikos im jüngsten von der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten herausgegebenen „Programmbericht 2011 – Fernsehen in Deutschland“, dadurch steige der „Bedarf an Orientierung“. Indikatoren dafür seien der anhaltend boomende Bereich der teilweise gescripteten Doku-Soaps und Coaching-Formate im Fernsehen. Für Mikos liegen die Wurzeln der Coaching-Formate in den Ratgebersendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Das mag wohl stimmen, fragwürdig erscheint allerdings der Schluss, den der Medienwissenschaftler im Folgenden zieht. Mittlerweile sei das Coaching „unterhaltungstauglich kommerzialisiert“ worden, und zwar „nicht zum Nachteil des Ratgebergedankens“. Folgt eine Auflistung all der skurrilen Formate, in denen vorzugsweise schräge Vögel und kaputte Figuren dem Gaudi eines offenbar für grenzenlos voyeuristisch oder auch sadistisch gehaltenen Publikums ausgeliefert werden. Ein paar Kostproben: „Teenie-Mütter: Wenn Kinder Kinder kriegen“ (RTL II) „Babyalarm! Teenie-Mütter in Not“ , „Baupfusch – Familien in Not“, „Messie-Alarm“ (alle drei Sat.1), „Wild Wedding – Ja, ich will, aber schrill“ (ProSieben). „Statt eines erhobenen Zeigefingers, der das Publikum eher verschreckt, herrschen nun emotionale Inszenierung und Beratung vor“, doziert Mikos. Es gehört schon eine gehörige Portion Zynismus dazu, solchen Freak-Shows Orientierungspotential „von der Wiege bis zur Bahre“ zu unterstellen. Aber Quote lässt sich mit solchen Billigformaten offenbar erzielen.

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