Von Rotarmisten zu Heuschrecken

60 Jahre Berliner Verlag – eine bewegende Geschichte

„Es ist ein Abenteuer, aber Sie kriegen in Ihrem Leben nur einmal so‘n Angebot, eine Hauptstadtzeitung zu machen“, jubelte Erich Böhme, Ex-Chefredakteur des Spiegel, als er im November 1990 den Job als Herausgeber der Berliner Zeitung übernahm. Im Auftrag von Gruner + Jahr war er angetreten, aus der regionalen Ost-Gazette ein liberales Hauptstadtblatt zu entwickeln, eine Art „Washington Post“ für Berlin.

Schon ein halbes Jahr vor dem Verkauf der meisten anderen SED-Bezirkszeitungen durch die Treuhand an westdeutsche Großverlage wurde der Berliner Verlag und mit ihm die Berliner Zeitung vom neuen Besitzer PDS abgestoßen: an ein Joint Venture der Robert Maxwell Communications mit Gruner + Jahr. Maxwell ging bald wieder von Bord. Damit begann eine neue bewegte Etappe in der Geschichte des Verlags und seines publizistischen Flaggschiffs.

„Berlin lebt auf“ – unter dieser Headline war am 21. Mai 1945 die erste Ausgabe der „Berliner Zeitung“ erschienen, herausgegeben von Angehörigen der Roten Armee und Mitgliedern der KPD. Der wenig später gegründete Berliner Verlag gab in den folgenden Jahren eine Reihe weiterer massenattraktiver Publikationen heraus – neben dem Boulevardblatt BZ am Abend die Neue Berliner Illustrierte, die Frauenzeitschrift Für Dich, die Wochenpost, die Freie Welt sowie die TV-Zeitschrift FF Dabei. Die Gesamtauf­lage dieser Printprodukte lag zum Zeitpunkt der Wende bei rund zehn Millionen Exemplaren.

Die neu errungene Pressefreiheit brachte einer Vielzahl von Beschäftigten wenig Glück. Unter dem neuen Besitzer Gruner + Jahr ging es mit den Zeitschriften bergab. Keines der genannten Traditionsblätter überlebte. Der Verlag hatte offenbar mehr Interesse am Absatz seiner Westprodukte auf dem gesamtdeutschen Markt als an der Neuformatierung dieser Zeitschriften. Der ganze Ehrgeiz der Hamburger konzentrierte sich auf die Berliner Zeitung und – mit Abstrichen – auf das Boulevardblatt Berliner Kurier.

Im Herbst 1997 versuchte man, mit einem millionenschweren Relaunch, der Berliner Zeitung endlich überregionales Format zu geben und ihren Auflagenschwund zu stoppen. Doch schon bald war die Aufbruchstimmung wieder dahin. Als mit der Rezession in der Zeitungsbranche Auflage und Anzeigenumsätze weiter bröckelten, fackelte Gruner + Jahr nicht lange und verkaufte Ende 2002 den Verlag an den bisherigen Konkurrenten Holtzbrinck. Ein Schachzug, der wegen konzentrationsrechtlicher Bedenken sofort die Kartellwächter auf den Plan rief und in eine dreijährige Hängepartie mündete.

Nun wechselt der Berliner Verlag mitsamt der Berliner Zeitung abermals den Besitzer. Ob die einstigen publizistischen Ambitionen Böhmes unter Montgomery und Co – als Finanzinvestoren auch als Heuschrecken bezeichnet – Bestand haben werden, erscheint äußerst zweifelhaft.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

VR-Formate im Dokumentarfilm

Mit klassischen Dokumentationen ein junges Publikum zu erreichen, das ist nicht einfach. Mit welchen Ideen es aber dennoch gelingen kann, das stand auf der Sunny Side of the Doc in La Rochelle im Fokus. Beim internationalen Treffen der Dokumentarfilmbranche ging es diesmal auch um neue Erzählformen des Genres wie Virtual Reality (VR).
mehr »

Erneute Streiks bei NDR, WDR, BR, SWR 

Voraussichtlich bis Freitag werden Streiks in mehreren ARD-Sendern zu Programmänderungen, Ausfällen und einem deutlich veränderten Erscheinungsbild von Radio- und TV-Sendungen auch im Ersten Programm führen. Der Grund für den erneuten Streik bei den großen ARD-Rundfunkanstalten ist ein bereits im siebten Monat nach Ende des vorhergehenden Tarifabschlusses immer noch andauernder Tarifkonflikt.
mehr »

Schutz vor zu viel Stress im Job

Immer weiter, immer schneller, immer innovativer – um im digitalen Wandel mithalten zu können, müssen einzelne Journalist*innen wie auch ganze Medienhäuser sich scheinbar ständig neu erfinden, die Belastungsgrenzen höher setzen, die Effizienz steigern. Der zunehmende Anteil und auch Erfolg von KI-basierten Produkten und Angeboten ist dabei nur das letzte Glied in der Kette einer noch nicht abgeschlossenen Transformation, deren Ausgang vollkommen unklar ist.
mehr »

Für eine Handvoll Dollar

Jahrzehntelang konnten sich Produktionsfirmen auf die Bereitschaft der Filmschaffenden zur Selbstausbeutung verlassen. Doch der Glanz ist verblasst. Die Arbeitsbedingungen am Set sind mit dem Wunsch vieler Menschen nach einer gesunden Work-Life-Balance nicht vereinbar. Nachwuchsmangel ist die Folge. Unternehmen wollen dieses Problem nun mit Hilfe verschiedener Initiativen lösen.
mehr »