„Grundrechte sind mehr als Lyrik“

„Ein Rückblick: 1974 hatte die Berliner Staatsanwaltschaft wieder mal unser „Sozialistisches Anwaltskollektiv“ mit einem Dutzend Kripobeamten besetzt und über Stunden durchsucht. Als der versammelte Anwaltsverstand protestierte und Zweifel an der Rechtmäßigkeit formulierte, erwiderte einer der anwesenden Staatsanwälte grinsend: „Gehen Sie doch zum Gericht, bis das entscheidet, sind wir längst weg.“ Ein Kollege stellte sich vor die Kripobeamten. Er wurde prompt von mehreren Beamten ergriffen und Hals über Kopf aus seiner eigenen Kanzlei geworfen.

Ähnlich hilflos, frustriert und wütend sahen sich in der Vergangenheit BürgerInnen, Wohngemeinschaften, Anwaltsbüros und Zeitungsredaktionen polizeilichen Durchsuchungen ausgesetzt. Das muß seit letztem Jahr nicht mehr so sein. Der Staatsanwalt hat keinen Grund mehr zu grinsen: Wir könnten auch nachträglich noch die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung durch ein Gericht, letztlich durch das Bundesverfassungsgericht feststellen lassen …

Spät hat das höchste deutsche Gericht die Grundrechte wiederentdeckt und ausgebaut. In der Brokdorf-Entscheidung war es das Demonstrationsrecht, im Volkszählungsurteil das Persönlichkeitsrecht und in dem „Soldaten-sind-Mörder“-Beschluß die Meinungsfreiheit.

Mit der neuen Entscheidung des ersten Senats und vier gleichlautenden Entscheidungen des zweiten Senats vom Juni 1997 wird ein bißchen mehr an effektivem und lückenlosem Rechtsschutz gegen Polizeiaktionen geschaffen. Solche Entscheidungen in den ersten Jahren dieser Republik hätten uns einiges ersparen können, nicht nur den Rauswurf eines Anwalts aus seinem eigenen Büro.

Nebenher betont das Bundesverfassungsgericht den hohen Wert des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung und der Pressefreiheit. Die Entscheidungen lassen hoffen auf eine verfassungsrechtliche Überprüfung des „Großen Lauschangriffes“ und auf ausstehende Entscheidungen zur Freiheit der Presse von Durchsuchungen und zum umfassenden Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten. Experten haben vorgeschlagen, das Verfassungsgericht zu entlasten durch Abschaffung der Verfassungsbeschwerden. Wehe.“


  • Christian Ströbele, in der „68er-taz“ vom 11. 4. 98
nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Schutz vor zu viel Stress im Job

Immer weiter, immer schneller, immer innovativer – um im digitalen Wandel mithalten zu können, müssen einzelne Journalist*innen wie auch ganze Medienhäuser sich scheinbar ständig neu erfinden, die Belastungsgrenzen höher setzen, die Effizienz steigern. Der zunehmende Anteil und auch Erfolg von KI-basierten Produkten und Angeboten ist dabei nur das letzte Glied in der Kette einer noch nicht abgeschlossenen Transformation, deren Ausgang vollkommen unklar ist.
mehr »

Für eine Handvoll Dollar

Jahrzehntelang konnten sich Produktionsfirmen auf die Bereitschaft der Filmschaffenden zur Selbstausbeutung verlassen. Doch der Glanz ist verblasst. Die Arbeitsbedingungen am Set sind mit dem Wunsch vieler Menschen nach einer gesunden Work-Life-Balance nicht vereinbar. Nachwuchsmangel ist die Folge. Unternehmen wollen dieses Problem nun mit Hilfe verschiedener Initiativen lösen.
mehr »

Tarifverhandlungen für Zeitungsjournalist*innen

Bereits Ende Mai haben die Tarifverhandlungen zwischen der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di und dem Zeitungsverlegerverband BDZV begonnen. Darin kommen neben Gehalts- und Honorarforderungen erstmals auch Regelungen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) zur Sprache.
mehr »

Für mehr Konfrontation

Die Wahlen zum EU-Parlament endeten – nicht unerwartet – in vielen Mitgliedsstaaten mit einem Rechtsruck. In Frankreich, Italien, Österreich, Belgien, den Niederlanden und anderswo wurden eher euroskeptische, nationalistische, migrationsfeindliche Kräfte der extremen Rechten gestärkt. Auch in Deutschland haben 16 Prozent der Bürger*innen, mehr als sechs Millionen Menschen für die rechtsextreme, völkische AfD gestimmt – trotz NS-Verharmlosungen, China-Spionage und Schmiergeldern aus Russland. Immerhin sorgte die große Protestwelle der letzten Monate, die vielen Demonstrationen für Demokratie dafür, dass die AfD-Ausbeute an den Wahlurnen nicht noch üppiger ausfiel. Noch Anfang…
mehr »