Perspektiven radikaler Transparenz von staatlichen Informationen
Es gab in den letzten Jahrzehnten keine Enthüllung journalistischer Art, die amerikanische Politiker so aus der Fassung gebracht hatte, wie die Ankündigung, rund 251.287 Depeschen des US-Außenministeriums veröffentlichen zu wollen. Bis Ende April wurden rund 10.000 Depeschen veröffentlicht. Allein diese Depeschen lösten vielerorts kleinere und größere politische Erdbeben aus, wo sich offizielle und vertrauliche Äußerungen voneinander eklatant unterschieden. Wie sehen die Perspektiven für diese Art radikaler Transparenz aus?
Nicht wenige schreiben den Auslöser der arabischen Revolution nicht Twitter, Facebook oder al-Dschasira, sondern WikiLeaks zu. So sollen die Veröffentlichungen über das große Ausmaß der Korruption der tunesischen Herrscherfamilie die Unruhen in Tunis wesentlich befördert haben. Die Flucht Ben Alis wiederum ermutigte auch Bürger in Ägypten, Yemen, Jordanien, Bahrain, Libyen und Syrien, für ihre Rechte einzustehen. Während deutsche Politiker lediglich etwas ins Lächerliche gezogen wurden, wurden arabische Potentaten des jahrelangen Lügens überführt.
WikiLeaks verliert Gatekeeper-Autorität
Bei dem gegenwärtigen Veröffentlichungstempo wird es vermutlich rund zehn Jahre dauern, bis die letzte Depesche veröffentlicht ist. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass das Tempo angezogen wird. Die Veröffentlichung der Dokumente zu Guantánamo Bay zeigte, dass WikiLeaks nicht mehr über die uneingeschränkte Kontrolle der Dokumente verfügt.
Die von WikiLeaks auserkorenen Medienpartner durften die Guantánamo-Dokumente zwar analysieren, aber nicht veröffentlichen. Dazu zählten die amerikanischen Zeitungen Washington Post, Miami Herald, die spanische Zeitung El País, der britische Telegraph, der deutsche Spiegel, die französische Le Monde, das schwedische Aftonbladet, und die italienischen Publikationen Repubblica und L’Espresso. Außen vor waren die alten Medienpartner New York Times und The Guardian gewesen. Sie waren vermutlich in Ungnade gefallen, da der Guardian die US-Depeschen gegen den Willen von Julian Assange der New York Times zur Verfügung gestellt hatte. Diese hatte im Sommer vergangenen Jahres ein kritisches Porträt des WikiLeaks-Gründers veröffentlicht. Nun preschten beide gemeinsam mit dem National Public Radio (NPR) vor – und erklärten, das Material nicht von WikiLeaks erhalten zu haben. Assange erteilte darauf den zuvor ausgewählten Exklusivpartnern rasch eine Freigabe.
Wo sitzt das Leck? Per Twitter beschuldigte WikiLeaks den ehemaligen Mitarbeiter Daniel Domscheit-Berg des Verrats und schrieb im Geheimdienstjargon „We had intel on them and published first“. Doch dies dementierte Domscheit-Berg gegenüber dem IT-Journalisten Detlef Borchers. Borchers glaubt auch, dass ein Ende der neuen Veröffentlichungen abzusehen ist. So soll es – entsprechend der Chatprotokolle zwischen Bradley Manning und Adrian Lamo – noch ein zweites Video eines Luftangriffs geben. Und es gibt noch 70.000 Dokumente aus Afghanistan, die so viele Informationen über Informanten enthalten, dass sie nicht veröffentlicht wurden.
Noch bleiben rund 240.000 nicht-veröffentlichte Depeschen. Der Kreis der Auswerter hat sich inzwischen erweitert. Neben den ursprünglichen fünf Redaktionen – dem Guardian, Le Monde, El Pais, Guardian und New York Times haben die libanesische Tageszeitung Al-Akhbar, die norwegische Tageszeitung Aftenposten, die deutsche Tageszeitung Die Welt, die indische Tageszeitung The Hindu nun auch die israelischen Tageszeitungen Jediot Ahronot und Haaretz Zugriff auf das Konvulut. Wohl nicht über einen offiziellen Kontakt zu WikiLeaks, da die Zeitung lediglich schreibt, man habe „vor ein paar Wochen“ die Dokumente „in die Hände bekommen“.
10.000 Depeschen sollen sich mit Israel beschäftigen. Die erste Veröffentlichungswelle im Winter zeigte, dass zahlreiche arabische Führer die Einschätzung Israels über Iran teilten. Sie sahen weniger Israel, als Iran als Gefahr – in der Öffentlichkeit vertraten sie jedoch die gegenteilige Einschätzung. In weiteren Dokumenten soll der Waffenschmuggel in den Gazastreifen und Libanon ein dominierendes Thema sein, der von der alten ägyptischen Regierung toleriert wurde. Die Haaretz-Redakteure interessieren sich bei ihrer Auswertung vor allem dafür, ob „Amtsinhaber in Israel und im Ausland im privaten Kreis anders reden als in der Öffentlichkeit“. Das tun sie in der Tat – sie listen zahlreiche, teilweise „beängstigende“ Beispiele dafür auf, denen sie künftig näher nachgehen wollen.
Daniel Domscheit-Berg arbeitet derweil mit einigen Mitstreitern, deren Namen nicht genannt werden, an der „digitalen Babyklappe“ OpenLeaks. Noch in diesem Jahr soll das Projekt mit sechs Medienpartnern starten, kündigte Domscheit-Berg auf der Konferenz re:publica im April an. Um wen es sich handelt, teilte er allerdings nicht mit. Geplant sind bis zu 100 Partner, wobei es sich je hälftig um Medien bzw. zivilgesellschaftlichen Organisationen handeln soll. Diese Partner werden dann auch die Infrastruktur über Beiträge finanzieren. Anders als WikiLeaks soll OpenLeaks lediglich die technische Vermittlung zwischen Whistleblower und Empfänger übernehmen. Quellenmaterial wird es also dann nur zu sehen geben, wenn die Empfänger des Materials sich dazu entscheiden.
OpenLeaks als Rückzug aus der Verantwortlichkeit
Dies ist eine folgerichtige Weiterentwicklung aus den Erfahrungen, die WikiLeaks in den vergangenen Jahren gemacht hat. Gestartet war WikiLeaks mit einer Kopie des Veröffentlichungskonzepts von Cryptome-Betreiber John Young, der das Material meist kommentarlos im Web veröffentlicht. Um die mediale Aufmerksamkeit zu steigern, entschieden sich die Betreiber nach dem Flop der Datenbank über Bestände der US-Armee im Irakkrieg dafür, die Materialien noch stärker in ihrem Kontext darzustellen: Das „Collateral Murder-Video“ wurde nicht nur geschnitten und mit kommentierenden Grafiken und Kommentaren versehen, sondern auch basierend auf einer journalistischen Recherche vor Ort in Irak eingeordnet. WikiLeaks verlangte außerdem von Medien, die das Video zeigen wollten, Spenden. Damit agierte die Organisation wie ein journalistisches Medium.
Die Afghanistan-Protokolle wiederum wertete WikiLeaks nicht mehr selbst aus, sondern überließ dies ausgesuchten Medienpartnern. Mit diesem Datenmaterial hatte Assange auch das Konvolut der US-Depeschen an die Partner übergeben, womit dasselbe Verfahren fortgesetzt war. Auf der WikiLeaks-Website wurden im weiteren Verlauf nur einzelne Depeschen ausführlich kommentiert. Außerdem wurden nur die Depeschen veröffentlicht, die zuvor die redaktionelle Kontrolle der Redaktionen durchlaufen hatte. Dieses Vorgehen ist nun durch die Verbreitung an weitere Redaktionen, die mit WikiLeaks derartige Abmachungen nicht getroffen haben, nicht mehr gewährleistet.
Die Verantwortung für die Veröffentlichung der Depeschen ist bei dem Modell der US-Depeschen vor allem bei den Redaktionen verortet, auch wenn die politische Diskussion etwas anderes suggeriert. OpenLeaks nimmt sich insofern noch weiter zurück, indem es sich als eine Art Kommunikationsdienstleister zwischen zwei Parteien begreift. Würde man OpenLeaks rechtlich wie einen Internetprovider oder ein Postunternehmen bewerten, wäre OpenLeaks von einer Mitverantwortung für die Inhalte ausgeschlossen. OpenLeaks wäre also im Kern nur ein technisch etwas avancierterer Kommunikationsdienstleister – und das rechtliche Risiko für das Leaking läge allein wieder in den Händen der Whistleblower, da die Medien ja über relativ umfangreiche Schutzrechte verfügen.
Whistleblower verfügen in Deutschland allerdings noch immer über keinen angemessenen Schutz und riskieren ihren Arbeitsplatz wegen der Verletzung von Verschwiegenheitsrechten. Zwar können die Rechte des Arbeitgebers gegen das Recht auf Öffentlichkeit abgewogen werden, doch genau das ist für Whistleblower in der Regel sehr riskant.
Mehr Whistleblower-Schutz
Die von WikiLeaks und seinen isländischen Mitstreitern vor fast eineinhalb Jahren in Gang gebrachte „Isländische Moderne Medien-Initiative“ (IMMI) ist zwar vom isländischen Parlament beschlossen worden, doch umgesetzt wurde aus dem Paket bislang nur ein verbesserter Informantenschutz. Die Isländer kämpfen dennoch nicht mehr nur für eine bessere Rechtslage in ihrem Land, sondern auch anderswo. Entsprechend wurde IMMI in „Internationale Moderne Medien-Initiative“ umbenannt. Sie sucht jetzt Mitstreiter auf europäischer Ebene – und scheint sie zu finden: Das Europäische Parlament hat sich Mitte April mit IMMI in einem „Seminar“ befasst und hat sich in einer Resolution positiv geäußert. Ende Mai wird es sich außerdem in einer Anhörung mit einer Verbesserung des Whistleblower-Schutzes auseinandersetzen. Der Deutsche Bundestag ist noch nicht so weit: Die nach dem Gammelfleisch-Skandal vom ehemaligen Verbraucherschutzminister Horst Seehofer initiierte Verbesserung der Rechtslage liegt nach dem Widerstand des Arbeitgeberlagers noch immer auf Eis. Immerhin hatte die SPD-Bundestagsfraktion anlässlich des Dioxin-Futtermittelskandals Anfang 2011 einen Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause angekündigt. Vom Whistleblower Netzwerk e.V. liegt bereits ein Entwurf für ein Gesetz „zum Schutz öffentlicher Interessen durch Whistleblowing“ mit innovativen Vorschlägen wie der Einrichtung eines von einem Bundesbeauftragten für Whistleblowing verwalteten Whistleblower-Fonds vor (http://whistleblower-net.de).
WikiLeaks hat mit seiner radikalen Transparenz die große Bedeutung von Open Government vorgeführt. Der Gegenpol zum Schutz von Whistleblowern besteht nämlich in der legitimen Veröffentlichung von staatlichen Informationen. In den USA fürchtet sich die auf rechtlich einwandfreien Füßen stehende „Open Data-Bewegung“ jetzt aber vor einem schweren Rückschritt: Die Regierung will auf Druck der Republikaner das Budget für den Electronic Government Fund von jährlich 37 auf 2 Mio. US-Dollar kürzen. Damit könnte die Datenbank-Website data.gov erheblich eingedampft werden. Gleichwohl nimmt die „Open Data-Bewegung“ in Europa Fahrt auf. Private Initiativen kümmern sich in Großbritannien, Deutschland, Italien und den Niederlanden um die Aufbereitung von Daten, die wie etwa die Haushaltsdaten im Web zwar zur Verfügung stehen, aber noch nicht in allgemein verständlicher Form aufbereitet wurden. Die Auseinandersetzung mit der Verfügbarkeit staatlicher Daten ist daher noch lange nicht zu Ende – auch wenn WikiLeaks und andere Plattformen keine radikale Transparenz mehr praktizieren sollten.