Die „Netzeitung“ setzt auf Qualitätsjournalismus und Schnelligkeit
Wie oft habe er sich geärgert, sagt Michael Maier. Wenn er abends Schlagzeilen machen musste, die am nächsten Morgen schon nicht mehr stimmen konnten: Wenn das Wahlergebnis zum Redaktionsschluss noch nicht feststand, man aber trotzdem noch schnell irgendwas schreiben musste. Wenn das Endspiel entschieden war, die Druckmaschinen aber längst angelaufen waren. Wenn der Rücktritt dann doch noch kam, die Zeitung aber bereits an allen Kiosken auslag.
Michael Maier habe sich sehr oft so geärgert, sagt er. Früher, als er noch Chefredakteur bei Printzeitungen war – erst bei der Wiener „Presse“, dann bei der „Berliner Zeitung“, später auch beim „Stern“. Inzwischen ist Maier Redaktionsleiter bei der „Netzeitung“ – der nach eigenen Angaben „ersten deutschen Tageszeitung, die ausschließlich im Internet erscheint“.
Seitdem kennt er so etwas wie einen Redaktionsschluss nicht mehr. Sobald eine Schlagzeile von den Ereignissen überholt worden ist, wird sie ersetzt, egal ob das morgens, abends, mittags oder nachts ist. Alle Nachrichten kommen frisch aus dem Agenturticker oder wurden eben erst recherchiert. „Wir bewegen uns schneller im Netz als die anderen“, sagt Maier. „Wir sind nicht bloß der Ableger eines Printmediums, sondern konzentrieren uns voll aufs Internet.“ Dafür ist die Redaktion fast rund um die Uhr und natürlich auch am Wochenende besetzt. „Zeitliche Kategorien wie ,Tag‘ oder ,Woche‘ haben im Netz keine Bedeutung“, sagt Maier. Folgerichtig heißt es in der „Netzeitung“-Werbung: „Spiegel-Leser wissen mehr. Nur halt ein paar Tage zu spät.“
Lesen kann man die „Netzeitung“ ausschließlich am Bildschirm. Wie alle Online-Medien richtet sie sich an den Internet-Surfer, der es – Flatrate hin oder her – kurz und knapp liebt. Als Zielgruppe werden die „besonders an Computer- und Wirtschafts-Themen interessierten 20- bis 35-Jährigen“ angepeilt. Für den Frühstückstisch taugt sie ebenso wenig wie als Bett- oder Klo-Lektüre. Warum also überhaupt „Zeitung“? Maier überlegt nicht lange: „Das Wort steht für aufklärerischen Journalismus – auch im Internet.“
Die „Netzeitung“ ist ein Wagnis. Nicht nur, weil sie keine etablierte Dachmarke nutzen kann, so wie „Bild Online“ oder „Tagesschau.de“, sondern vor allem, weil sie sich mit Niveau profilieren will. Denn bislang wurden anspruchsvolle Texte von den Internet-Surfern weitgehend von Missachtung gestraft. Selbst angesehene Magazine setzen in ihren Internet-Ausgaben deshalb oft auf billige Klatsch-Storys oder auf Nacktfotos. Da klingt es beinahe wie eine Rechtfertigung, wenn Maier immer wieder betont: „Wir machen Qualitätsjournalismus.“ Für einen Print-Chefredakteur wäre das eine Floskel, in der Online-Branche wirkt es wie eine Ankündigung zum Harakiri. Doch Maier vertritt seine Position überzeugend. Schon zu „Stern“-Zeiten hatte er sich gegen zu viel Busen im Blatt gewehrt.
Gut zwei Dutzend Redakteure arbeiten in den „Netzeitung“-Redaktionsbüros in Berlin und Frankfurt. Die meisten waren zuvor bei renommierten Print-, TV- oder Radio-Redaktionen, unter anderem bei der „Neuen Zürcher Zeitung“, bei der ARD und beim „Deutschlandradio“.
Das hat seinen Preis. Und ob sich die Investition jemals auszahlt, steht in den Sternen. Einnahmen erzielt die „Netzeitung“ ausschließlich aus Werbeerlösen. Und die fließen im Internet bisher noch spärlich. Mit „mindestens vier Jahren“ Anlaufverlust rechnet deshalb „Netzeitung“-Pressesprecher Peter Hoenisch.
Auch das Vorbild der „Netzeitung“, die norwegische „Nettavisen“, hat in etwa so lange gebraucht, bis sie schwarze Zahlen schreiben konnte. Doch inzwischen gehört das Osloer Internet-Blatt zu den beliebtesten Medien-Site des Landes. Im letzten Jahr entschloss sich die „Nettavisen“-Eigentümerin „Spray.net“ deshalb zum Aufbau eines Schwesterblatts in Deutschland. Im Frühjahr wurde zwei Redakteure nach Berlin geschickt und bekamen den Auftrag, Journalisten anzuwerben – das war der Anfang der „Netzeitung“. Zu den Olympischen Spielen im September startete dann eine erste Probeversion, Anfang November erfolgte der offizielle Launch. Seitdem gibt es unter www.netzeitung.de Berichte aus Wirtschaft, Politik, Entertainment, Sport, Medien und Universität, dazu das Internet-Feuilleton „Voice of Germany“.
Und das Angebot soll weiter Schritt für Schritt ausgebaut werden. Denn bislang nutzt die „Netzeitung“ die multimedialen Möglichkeiten des World Wide Webs nur sehr zaghaft aus. Zwar gibt es erste Experimente mit interaktiven Flash-Infografiken und animierten Karikaturen. Aber weder werden Ton- noch Filmsequenzen eingesetzt. Selbst auf Fotos verzichtet die „Netzeitung“ der Ladezeiten wegen weitgehend.
Auch sonst bleibt viel zu tun: Eine WAP-, eine Palm-Version und ausdruckbare Seiten sind erst in Planung. Ein Newsletter-Service, bei dem man sich personalisierte Nachrichten per E-Mail schicken lassen kann, ist angekündigt, mittelfristig soll der Aufbau von Lokalredaktionen in Städten wie Hamburg, München, Köln und Leipzig folgen.