In Istanbul hat der Prozess gegen 17 Mitarbeiter der unabhängigen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet begonnen. Begleitet worden war der Prozessauftakt von massiver internationaler Kritik. Der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (ROG), Christian Mihr, ist in die Türkei gereist, um den Prozess zu verfolgen und spricht nach der ersten Verhandlung von einer „Farce, in der das Urteil schon längst gefällt ist“.
Fast die gesamte Führungsriege der regierungskritischen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet steht seit heute in Istanbul vor Gericht. Darunter der Chefredakteur Murat Sabuncu und der Kolumnist der Zeitung, Kadri Gürsel, die bereits seit Ende Oktober vergangenen Jahres in Untersuchungshaft sitzen, sowie der Herausgeber der Zeitung, Akin Atalay, der im November 2016 verhaftet worden war. Auf der Anklagebank sitzt in absentia auch der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, der mittlerweile im Exil lebt und in Berlin mit Unterstützung des Recherchebüros Correctiv das deutsch-türkische Exilmagazin „Özgürüz“, auf Deutsch „Wir sind frei“, gegründet hat. Vorgeworfen wird den Cumhuriyet-Mitarbeitern die Unterstützung terroristischer Organisationen durch ihre Berichterstattung. In der erst nach fünf Monaten vorgelegten Anklageschrift ist unter anderem von Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen sowie zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK die Rede. Dafür drohen den Angeklagten bis zu 43 Jahre Haft.
Absurd: In einem auf Zeit Online veröffentlichten Beitrag von Can Dündar weist dieser darauf hin, dass der heutige 24. Juli in der Türkei eigentlich als Tag der Pressefreiheit gefeiert werde, seitdem 1908 die Zensur in dem Land abgeschafft worden war. Zufall oder nicht, der Tag der Pressefreiheit sollte dennoch gefeiert werden, so Dündar, und zwar „vor Gericht und im Exil als Tag des Kampfes für die Pressefreiheit.“
Die Presse- und die Medienfreiheit zu schützen, dazu riefen anlässlich des Prozessauftakts auch zahlreiche internationale Organisationen auf. Der neue Beauftragte für Medienfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Franzose Harlem Désir, unterstrich, dass Journalismus eine wesentliche Rolle in der Demokratieförderung spiele und forderte die Türkei auf, „alle Anschuldigungen fallenzulassen, alle Journalisten, die wegen ihrer Arbeit inhaftiert worden, freizulassen, und dringend benötigte Reformen einzuleiten, um die Medienfreiheit im Land zu schützen“.
Auch Reporter ohne Grenzen forderte die türkische Justiz auf, die Anschuldigungen gegen die 17 Angeklagten fallenzulassen. „Die Zeitung Cumhuriyet steht symbolisch für den mutigen Einsatz der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien in der Türkei. Eine Verurteilung wäre ein verheerendes Signal und eine Schande für die Justiz, sagt ROG-Geschäftsführer Christian Mihr im Vorfeld des Prozessbeginns. Nun, gegen Ende des ersten Prozesstags, ist sich Mihr sicher, dass der Prozess nur eine „Farce“ ist und das Urteil, zumindest für einige der Angeklagten, schon feststeht.
Zusammen mit drei weiteren Beobachtern von ROG ist er in die Türkei gereist, um den Prozess zu verfolgen. Dabei sei er für einen Kollegen eingesprungen, der zu große Sicherheitsbedenken gehabt habe, berichtet Mihr gegenüber M, so wie viele weitere internationale Beobachter, die ihre Prozessteilnahme zuletzt noch abgesagt hätten. Er habe es aufgrund des großen Andrangs nicht persönlich in den Gerichtsaal geschafft, dafür aber der ROG-Türkei-Korrespondent Erol Önderoglu, der in einem anderen Verfahren selbst auf der türkischen Anklagebank sitzt. Dass für einen Prozess, bei dem ein derart hohes internationales Interesse zu erwarten war, kein größerer Saal zur Verfügung gestellt worden sei, wertet der ROG-Geschäftsführer als „Schikane“. Insgesamt sei die Regulierung des Zugangs zum Prozesssaal aber nicht selektiv gewesen, merkt er an. Einige internationale Medien sowie die beiden EU-Parlamentarier_innen Rebecca Harms (Bündnis 90/Die Grünen) und Arne Lietz (SPD) seien sogar bevorzugt hereingelassen worden.
Die Infos aus dem Gerichtssaal, die er von Önderoglu bekommen hat, zeigten, wie politisch das gesamte Verfahren sei, das mit rechtsstaatlichen Prinzipien nichts zu tun habe. Anstatt die Angeklagten mit den Terrorismusvorwürfen aus der Anklageschrift zu konfrontieren, habe die Anklage „im Trüben gefischt“. Befragt worden seien die Cumhuriyet-Mitarbeiter lediglich zu redaktionellen Prozessen und journalistischen Arbeitsweisen. Für einen politischen Prozess spricht auch, dass die Beweisaufnahme schon in dieser Woche abgeschlossen werden soll. Mit einem Urteil sei dann relativ schnell zu rechnen, sagt Mihr, der glaubt, dass zwei bis drei der Angeklagten freigesprochen werden, sozusagen als „Pseudo-Zugeständnis“ an die westlichen Demokratien. Dies entspräche der „Willkür-Logik“ des türkischen Regimes, in dem sich nicht einmal ein Erdogan gänzlich unbeeindruckt gegenüber dem nun einsetzenden politischen Druck in Form von Wirtschaftssanktionen zeigen kann.
Sieben Journalisten von Cumhuriyet freigelassen
Fünf Tage nach Prozessbeginn gegen 17 Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet wurden sieben Angeklagte der 11 Inhaftierten am Abend des 28. Juli freigelassen. Vier weitere müssen in Haft bleiben: der Herausgeber Akın Atalay, den Chefredakteur Murat Sabuncu, den Investigativjournalisten Ahmet Şık und den Kolumnisten Kadri Gürsel. Die Verhandlung wird am 11. September fortgesetzt.
Im Laufe der Prozesswoche kamen die Angeklagten zu Wort und wiesen ebenso wie ihre Anwälte die Vorwürfe der Unterstützung terroristischer Organisationen vehement zurück. Ahmet Şık hatte gelich zu Beginn die Regierung kritisiert und erklärt, dass er es ablehne sich zu verteidigen, „denn Journalismus ist kein Verbrechen“. Allein wegen seiner Verteidigungsrede verlangte daraufhin die Staatsanwaltschaft eine weitere Anklage gegen Şık, wie unter anderem Zeit Online berichtete.
Aktualisierung am 31. Juli 2017