Sein wohl bekanntestes Bild zeigt die junge Frau, die den sterbenden Benno Ohnesorg im Arm hält. Aufnahmen eines politisch engagierten Fotografen wie Jürgen Henschel (1923-2012) dokumentieren vieles, was sich abseits der Hochglanz-Strecken offizieller Geschichtsschreibungen zutrug. Die Digitalisierung von Archivbeständen kann helfen, Erinnerungen zu wecken und Ereignisse wieder lebendig werden zu lassen. Ein solches Projekt wurde jetzt in Berlin präsentiert.
Von allen Fotos jener Nacht nach der Anti-Schah-Demo und den Polizeiübergriffen vom 2.Juni 1967 ist nur „nur eines von dieser Dramatik, nur eines hat diese mobilisierte Symbolkraft wie Henschels Bild“, schrieb die Berliner Zeitung zum 40. Jahrestag der Ereignisse. Ähnlichen Ausdruck schafft ein Henschel-Foto vom Ostermarsch 1968: Junge Leute halten ein Holzkreuz hoch, als sie von der Polizei mit einem Wasserwerfer angegriffen werden.
Jürgen Henschel dokumentierte das Geschehen in seiner Stadt seit den 1960er Jahren bis zur Rente 1987 für die Die Wahrheit, die Zeitung der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW). Seine Bilder liefern eine visuelle Geschichte der gewerkschaftlichen und linken Opposition. Sie erinnern an Lohnkämpfe und soziale Auseinandersetzungen, an Bauskandale, an die reiche Szene „freier“ Kulturgruppen, an die Wurzeln einer multikulturellen Gesellschaft und an Alltägliches.
Und natürlich war er überall dort, wo seine Partei und die mit ihr verbundenen Organisationen aktiv waren. Seine Fotos erinnern zugleich daran, wie die Stadt damals aussah: Altbaufassaden, der Bauboom der 1970er Jahre und dennoch Kriegslücken, die heute zugebaut sind.
Teilnehmer damaliger Demonstrationen mögen sich an den Mann mit der Aluleiter erinnern. Die war wichtig, um nicht immer nur die erste Reihe mit Veranstalterkreis-Promis auf den Film zu bannen, sondern auch die Menschenmenge dahinter.
Den schreibenden Wahrheit-Kollegen gab der Fotograf gelegentlich Rätsel auf: Henschel gelang es, von zwei oder gar drei Vormittags-Terminen Bilder mitzubringen. „Wie hat der das bloß wieder geschafft?“ Mit den „Öffis“! Erstaunlich.
Jürgen Henschel nahm sich in seinen ersten Jahren als Rentner die Zeit, seine Negative zu katalogisieren und umfänglich zu beschriften. So konnte er seine Bilder den Museen der (West)berliner Stadtbezirke zuordnen, denen er Anfang der 1990er Jahre etliche Ordner anvertraute.
Das FHXB-Museum, zuständig für Kreuzberg und Friedrichshain, hatte dem Fotografen schon 2006 eine Ausstellung und einen Bildband gewidmet. Seit einiger Zeit digitalisiert man dort Dokumente verschiedenen Ursprungs. Der Erinnerung wegen, um sie auf Dauer zu erhalten – vor allem aber, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So hat das FHXB-Museum 2017 die mehr als 25.000 Negative Jürgen Henschels digitalisieren lassen und ausgehend von den Beschriftungen verdatet. Orte, Ereignisse, bekannte und unbekannte Menschen – das Gros dieser Aufnahmen kann man jetzt in der Deutschen Digitalen Bibliothek online entdecken. Gefördert wurde das Projekt von der Berliner Senatskulturverwaltung.
Einen Aspekt, der nicht ohne weiteres deutlich wird, beschreibt Sophia Perl, die das Projekt mit Jana Braun leitete. Das FHXB hatte bereits etliche Werke Kreuzberger Künstler digitalisiert. Jürgen Henschels Archiv konnte zu vielen auch Porträts der Künstler beisteuern, gelegentlich gar einen Blick in deren Ateliers. Bei der Präsentation des Projektes im März 2018 kamen schon mal Zwischenrufe aus dem Publikum mit ergänzenden oder korrigierenden Hinweisen zu Personen und Ereignissen. Das ist übrigens erwünscht. Jana Braun und Sophia Perl arbeiten solche Infos gerne ein.
Der Blick, denn wir durch Jürgen Henschels fotografisches Geschichtsbuch auf politisches und soziales Geschehen richten dürfen, öffnet oft genug unversehens ein assoziatives Fenster in die Gegenwart: Von der Forderung, den Krieg in Vietnam zu beenden, braucht es nur einen zeitlichen Wimpernschlag zur Schlagzeile über Afghanistan oder Syrien. Oder auf Henschels Fotos wird ein „Mietpreisstopp“ vorgeschlagen, protestieren Kindergärtnerinnen gegen ihre Arbeitsbedingungen, wird gestreikt… Da wird an Celalletin Kesim erinnert, der in Kreuzberg von türkischen Rechtsextremisten („Graue Wölfe“) ermordet wurde. Das war 1980 in Kreuzberg, lange bevor Wohnheime von Migranten brannten. Im Archiv finden sich viele Szenen von Kreuzberger Kiezfesten – Jahrzehnte, bevor das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Wurzeln als „Multikulti“ verschlagwortet und von einer Polizeistrategie begleitet wurde.
Jürgen Henschels Fotos wirken fast unbeteiligt und ohne jedes Pathos. Sie bewahren Zeitgeschehen und Aktionen für die Nachwelt. Henschels Werk ist „ein unersetzbarer Schatz zum Verständnis des Nachkriegs-Berlin“, schrieb Martin Düspohl im Ausstellungs-Buch „Jürgen Henschel – Fotograf der Wahrheit“. Noch können Motive mit Ereignissen und persönlichen Erinnerungen verbunden werden und sind nicht ausschließlich offizieller Geschichtsschreibung unterworfen, die die Vergangenheit mit aktueller Moral bewertet.