„Heute gibt es nicht zu wenig, sondern zu viel Nachrichten“, konstatieren die Herausgeber des Sammelbandes „Nachrichten und Aufklärung“, der anlässlich des 20. Jubiläums der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) erschienen ist. Über unklare Auswahlverfahren für die Bundesrichterwahl wurde nicht berichtet, dagegen ausführlich über die Scheidung von Brad Pitt und Angelina Jolie – eine Schieflage nach den Relevanzkriterien der INA, die alljährlich die „Top Ten“ der vergessenen Nachrichten veröffentlicht.
Wissenschaftler_innen und Journalisten problematisieren in dem Jubiläumsband das Verhältnis zwischen Mediensystem und Gesellschaft, welche Themen relevant für den sozialen Diskurs sind und warum diese vernachlässigt werden. Alle Autor_innen stammen aus dem INA-Umfeld – angefangen bei den bisherigen Geschäftsführern Peter Ludes, Horst Pöttker und Hektor Haarkötter, der den Band zusammen mit Jens-Uwe Nieland herausgegeben hat, bis hin zu Vorstands- und Jurymitgliedern wie Günter Wallraff.
Die INA wurde 1997 an der Universität Siegen mit dem Ziel gegründet, auf Themen und Geschichten hinzuweisen, „die von deutschen Massenmedien vernachlässigt werden, für die demokratische Willensbildung aber besonders wichtig sind“. Ihr Initiator, der emeritierte Medienprofessor Peter Ludes, definiert in seinem Beitrag, was unter dieser gesamtgesellschaftlichen Relevanz verstanden wird: „Je mehr Menschen von einem Problem betroffen sind, desto wichtiger ist es, vor allem wenn es um Leben und Tod oder allgemeine Lebenschancen geht.“ Traditioneller Journalismus, der über solche Themen aufklärte, werde durch das Internet mit seinen „Infrastrukturen der Verschleierung“ untergraben, da im Netz „nicht algorithmisch erfassbare Wahrnehmungsbereiche“ grundsätzlich „ausgeblendet“ würden und kommerzielle Plattformen sowie soziale Netzwerke keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen.
Die Hälfte der zwölf Beiträge thematisiert wie der von Ludes die Aufklärung durch Nachrichten aus theoretischer Perspektive. Da geht es etwa um Gründe für die Vernachlässigung bestimmter Themen wie die Macht sozialer Eliten und eine „gewisse Kameraderie“ von Journalist_innen mit diesen, wie sie auch die INA jenseits von Verschwörungstheorien kritisiert. Die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise der Medien sei weniger auf mangelnde Transparenz der Berichterstattung, sondern eher auf politische Entfremdungsgefühle der Rezipierenden zurückzuführen. Das habe auch mit der zunehmenden Komplexität von Welterfahrungen zu tun, die journalistische Themenreduktion erschwere. Informationskanäle würden zunehmend durch irrelevante Junk News wie „Klatsch und Trash“ verstopft, illustriert Politologe Jens-Uwe Nieland in seinem Beitrag.
Drei Autoren referieren empirische Studien. Eine Analyse thematisiert das mobile, sozial vernetzte und dialogisch kommunizierende junge Publikum, das von Redaktionen umworben wird mit Themen aus seiner Lebenswelt. Eine Inhaltsanalyse der heftig kritisierten Ukraine-Berichterstattung deutscher Leitmedien endet mit dem Fazit, dass die westliche Einmischung zwar erwähnt wurde, aber „keinen besonderen Rechercheeifer auslöste“, so dass sie im Mainstream untergehen konnte.
Die journalistische Perspektive vertreten Enthüllungsautor Günter Wallraff, nach dem der seit 2015 verliehene INA-Preis für Journalismuskritik benannt ist, und der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall, der schreibt: „Nicht die Lüge, sondern die Nachlässigkeit in der journalistischen Arbeit ist der Feind der Aufklärung.“ Wallraff beklagt, dass häufig soziale Themen unter den Tisch fallen, „die vielen Menschen unter den Nägeln brennen“, etwa die prekären Arbeitsverhältnisse. So zählte die Scheinselbstständigkeit freier Journalist_innen 2017 auch zu den vernachlässigten Themen. Die Dokumentation der Top Ten vergessener Nachrichten aus 20 Jahren INA im letzten der vier Kapitel hat die Kölner Medienwissenschaftlerin Johanna Wergen erstellt – einzige Frau unter den Autor_innen.
Alle Beiträge umkreisen das Themenfeld Aufklärung und Nachrichten – mal näher an der Geschichte der INA wie bei Horst Pöttker, der die Begleitforschung des Projekts vorstellt, oder allgemeiner, wenn der Qualitätsbegriff oder die Verdachtsberichterstattung problematisiert werden. Die Texte sind so unterschiedlich wie ihre Verfasser – mal gut verständlich geschrieben, mal stört der Fehlerteufel den Lesefluss. Für die Zielgruppe der Wissenschaftler_innen und Studierenden sind sie sicherlich eine interessante Lektüre, aber auch für alle, die sich für die Geschichte der INA interessieren.