No-News-Liste zeigt blinde Medien-Flecken

Investigativ-Journalist Günter Wallraff (2.v.r.) forderte bei der Vorstellung der vergessenen Nachrichten mehr Investitionen in Zeitungsjournalismus und Medienkompetenz. Foto: Torsten Kleinz

Welche Nachrichten sind gesellschaftlich wichtig, gehen aber in der täglichen Berichterstattung unter? Die „Initiative Nachrichtenaufklärung“ hat am 8. Februar in Köln zum 20. Mal ihre Rangliste der wichtigsten vergessenen Nachrichten vorgestellt: Neben dem Auswahlverfahren für Bundesrichter und dem Krieg in Jemen sind auch die Arbeitsbedingungen freier Journalisten dabei.

Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) arbeitet für die Top-Ten-Liste der vergessenen Nachrichten inzwischen mit fünf Universitäten zusammen, wo studentische Teams jährlich mehr als 300 Themenvorschläge auswerten und recherchieren. INA-Geschäftsführer Hektor Haarkötter mahnte: „Problem sind die No News, nicht die Fake News: Nachrichten, die überhaupt niemand erfährt, obwohl sie wichtig sind“. Es gehe nicht darum, „dass eine Info-Elite Bescheid weiß, sondern dass systematisch relevante Themen einem Großteil der Bevölkerung nicht bekannt sind“, ergänzte INA-Mitglied Günter Wallraff.

Negativpreisträger nach Auswahl der Jury in diesem Jahr ist das Verfahren zur Bestimmung der Richter an deutschen Bundesgerichten. Zwar haben einige Medien wie „Der Spiegel“ und die „taz“ über Klagen von Richtern gegen das Ergebnis der Auswahlverfahren berichtet. Das generelle Problem kommt laut Haarkötter dabei aber zu kurz: „Das Verfahren ist überhaupt nicht transparent“, kritisiert der Kölner Journalistik-Professor, „es wird nach Aktenlage und Parteizugehörigkeit ausgewählt“. So fehle vielen Mitgliedern der zuständigen Wahlausschüsse ein juristischer Hintergrund, es sei nicht einmal ein persönliches Vorstellungsgespräch der Kandidaten vorgesehen.

Auf Platz 2 landeten die zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr, die in deutschen Medien zu wenig aufgegriffen würden. So sei die Bundeswehr derzeit an insgesamt 16 offiziellen Auslandseinsätzen in 14 Ländern beteiligt. Zwar sind Einsätze immer wieder Gegenstand der Berichterstattung, doch gerade die kleineren Truppenkontingente wie im Sudan oder in Somalia würden von der Presse weitgehend ignoriert. Auch die enormen Kosten seien der Öffentlichkeit kaum bekannt.

Neben der offiziellen Kriegsführung kritisiert die Initiative auch die zu geringe Beachtung der Rolle Deutschlands im Jemen-Konflikt. Zwar sind dort keine Bundeswehr-Soldaten eingesetzt, aber die deutsche Industrie ist einer der größten Waffenlieferanten für Saudi-Arabien. Als Ausgleichsthema empfehlen die Medienkritiker auch, die Lage von Staaten wie Costa Rica zu betrachten, die seit Jahrzehnten auf eine Armee und Kriegsführung verzichten.

Auf Listenplatz 10 liegen die Arbeitsbedingungen in den Medien selbst, wo man wesentlich auf freie Mitarbeiter setzt, ihnen aber mit zahlreichen Einschränkungen das Leben schwermacht. So kritisieren die Juroren zum Beispiel eine Regel des Westdeutschen Rundfunks, wonach freie Mitarbeiter nach Ende eines Vertrags eine dreimonatige Beschäftigungssperre auferlegt bekommen. In den deutschen Medien seien Berichte über die teilweise prekären Arbeitsbedingungen in den Medienhäusern selbst nur ungern gesehen. Haarkötter forderte: „Es müssen endlich Einkommensbedingungen geschaffen werden, die verantwortungsvollen Journalismus ermöglichen.“

Zum 20jährigen Bestehen wird die INA einen Sammelband mit dem Titel „Nachrichten und Aufklärung. 20 Jahre Initiative Nachrichtenaufklärung“ herausbringen. Am 2. Juni 2017 veranstaltet die Initiative außerdem gemeinsam mit dem Deutschlandfunk das 3. Kölner Forum für Journalismuskritik und verleiht ebenfalls zum dritten Mal den „Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik“. Vorschläge für weitere vergessen Nachrichten nimmt die Initiative auf ihrer Homepage entgegen.

Hier die vollständige Liste der Vergessenen Nachrichten 2017.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Der Rotstift beim Kinderfernsehen

ARD und ZDF halten es nicht für sinnvoll, wenn die Bundesländer im Reformstaatsvertrag einen fixen Abschalttermin für das lineare Programmangebot des Kinderkanals KiKa festlegen. Die lineare Verbreitung zu beenden, sei „erst dann sachgerecht, wenn die weit überwiegende Nutzung eines Angebots non-linear erfolgt“, erklärten ARD und ZDF gemeinsam auf Nachfrage. „KiKA bleibt gerade für Familien mit kleinen Kindern eine geschätzte Vertrauensmarke, die den Tag linear ritualisiert, strukturiert und medienpädagogisch begleitet.“
mehr »

Journalismus unter KI-Bedingungen

Digitalkonzerne und Künstliche Intelligenz stellen Medienschaffende vor neue Herausforderungen. „KI, Big Tech & Co. – was wird aus dem Journalismus?“ lautete folgerichtig der Titel der 11. Medienpolitischen Tagung von ver.di und DGB am 16. Oktober in Berlin. Über 80 Wissenschaftler*innen, Rundfunkräte und Journalist*innen informierten sich auch über den aktuellen Stand der Debatte über den neuen Medien“reform“staatsvertrag.
mehr »

NRW: Zusammenschluss im Zeitungsmarkt

Die Konzentration im NRW-Zeitungsmarkt, insbesondere in der Region Ostwestfalen-Lippe (OWL), setzt sich fort. Die Neue Westfälische und das Westfalen-Blatt streben eine Kooperation an. Auch die Lippische Landes-Zeitung und das Mindener Tageblatt planen, ihre Verlagsaktivitäten künftig in einer gemeinsamen Holding zu bündeln.
mehr »

Neue Perspektiven für Klimajournalismus

Besondere Zeiten brauchen einen besonderen Journalismus – ein Motto, dass das im Juli gelaunchte deutschsprachige Medienprojekt „Neue Zukunft“ nicht aus werbestrategischen Gründen ausgegeben hat. Die Klimakrise und die Klimagerechtigkeitsbewegung erhalten in vielen Medien der Schweiz, Österreichs und Deutschlands ihrer Meinung nach nicht genügend Aufmerksamkeit. Gerade Gerechtigkeitsfragen erhöhen den Handlungsdruck im Zusammenhang mit den Folgen menschlichen Raubbaus an Ressourcen und Umwelt.
mehr »