Weil ich es kann. Der Ego-Spruch, der Fragen nach Gründen verbietet, ist Mode. Bedenkenträger sind Looser, Abwägen uncool. Allmachtsphantasten haben Konjunktur. Potenz auszuspielen schafft bei nächtlichen Autorennen Nervenkitzel und womöglich unbeteiligte Opfer. Im Journalismus bringt es Quote, sonst keine Konsequenzen. So kalkulierten wohl Bild-Chef Julian Reichelt und RTL im Mordfall Solingen – weil sie es können?
Er könne „gar nicht alle Pressekodexpunkte aufzählen“, gegen die „Bild“ in der Berichterstattung über die fünf toten Kinder und den überlebenden Jungen von Solingen verstoßen habe, kritisierte Friedrich Küppersbusch. Entrüstung prägt die Kommentare in zahlreichen Medien, die die Entgleisungen von „Bild“ und RTL zum Gegenstand nahmen. Schon zuvor ging ein Shitstorm durch die sozialen Medien. Selten wird Presseberichterstattung in der Branche so umfassend und schnell reflektiert. Und selten so einhellig verurteilt.
Von einer „Schande für den Journalismus“ spricht der Publizistik-Professor Tanjev Schultz und prangert die „Kinderschüttler“ mit Presseausweis an, die nicht davor zurückschrecken, Whatsapp-Nachrichten von Elfjährigen nicht nur auszuforschen, sondern auch zu veröffentlichen. Mit Porträtfoto. Er diagnostiziert „keine Ausraster, sondern Routinen“. Andere Kommentatoren verteidigen zwar das umfassende Beschaffen von Informationen – auch bei trauernden Angehörigen oder minderjährigen Opfern – sehen den Skandal aber darin, was der „Bild“-Chefredakteur aus diesen Fakten gemacht hat. Sie fordern die Einhaltung journalistischer Regeln und moralischen Anstand.
Das tut Not. Und es ist wichtig, daran zu erinnern, dass der Pressekodex der ungezügelten Berichterstattung in Kriminalfällen klare Grenzen setzt: Die Würde der Opfer und ihrer Angehörigen ist zu schützen. Speziell Kinder und Jugendliche, so Richtlinie 8.3, dürfen in Berichten über Straftaten und Unglücksfälle in der Regel nicht identifizierbar sein. „Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz“, beginnt Ziffer 11 des Pressekodex‘. Umgehend hat es deshalb zu Solingen auch Beschwerden beim Deutschen Presserat gehagelt. Das Gremium der Selbstkontrolle wird sich mit dem Fall eingehend beschäftigen und voraussichtlich einen rügenden Spruch fällen. Doch wird das dauern. Und leider ist der Wert solcher Sanktionen eher symbolisch.
Die Bestrafung nächtlicher Autoraser bleibt schwierig, wenn zwar das Strafgesetzbuch, aber keine Blitzer-Fotos existieren. Ihre Ächtung ist nicht erreichbar, solange Gasfüße, Boliden und Siegermentalität das Selbstbild zu vieler anderer Motorisierter prägen. Im Fall Solingen-Berichterstattung liegen Regeln, ethische Standards und die selbst gelieferten Beweise auf dem Tisch. Und die Ächtung?
Die sollte schnell und umfassend erfolgen: Von Seiten aller, die ihr journalistisches Handwerk gelernt haben und weiter wichtig nehmen. Von allen, die ihr Gewissen nicht an einer Verlagstür abgeben und im abwägenden Zweifel womöglich auch auf Quote verzichten. Durch alle, die sich von Julian Reichelt und Co. nicht zum Deppen machen lassen. Von Praktiker*innen, die journalistische Profession in Zeiten von Lügenpresse-Vorwürfen mit Qualitätsmaßstäben hochhalten. Kurz: von allen, die wissen, dass wir es besser können!