Vereinfachte Symbolik: Islam gleich Kopftuch

Screenshot: Felix Koltermann

Komplexe Analysen innerislamischer Debatten sind im deutschen Journalismus eher selten. Umso trauriger, dass ein bei FOCUS Online publizierter Hintergrundartikel zum Thema durch die von der Redaktion vorgenommene Visualisierung einen problematischen und sachlich falschen Deutschlandbezug bekommt.

Am Sonntag 16. Mai 2021 publizierte FOCUS Online in der Rubrik Ausland einen Gastbeitrag des Islamwissenschaftlers Ralph Ghadban. Er trägt den Titel „Erneuerung des Islam? Nach jahrelanger Blockade macht Scheich den Weg für Reformen frei“. Thema des Artikels sind Äußerungen des Scheichs Al-Azhar Ahmad Al-Tayyeb in den Ramadan-Gesprächen im ägyptischen Fernsehen. Als Teaserbild wählte die Redaktion ein Bild des dpa Fotografen Maurizio Gambarini. Es zeigt eine von hinten fotografierte Gruppe von Menschen mit einer kopftuchtragenden Frau in der Bildmitte. Versehen ist es mit dem Zusatz „Illustration“ und folgender Bildunterschrift: „Bereits zum 13. Mal kamen Vertreter von Bund, Ländern, Kommunen und Migrantenorganisationen zu einem Integrationsgipfel zusammen“. Ohne Not wird so ein unpassender Deutschlandbezug hergestellt und das Bild darüber hinaus falsch kontextualisiert.

Der als FOCUS-Online-Experte eingeführte Autor zeichnet im Text in großer Detailfülle nach, wie der Imam der ägyptischen Al-Azhar-Moschee Al-Tayyeb, der lange Jahre auch Rektor der gleichnamigen islamischen Universität war, in einem Fernsehinterview vom 3. Mai einige Grundpfeiler seiner bis dahin vertretenen Thesen revidiert. Es geht dabei vor allem um die Bedeutung der Sunna als zweite Quelle für islamisches Recht neben dem Koran. Laut Ghadban öffnet sich mit Al-Tayyebs Aussagen ein neuer Raum für Religionskritik im sunnitischen Islam. Der Autor interpretiert die Aussagen des Scheichs vor dem Hintergrund weiterer Entwicklungen etwa in Saudi-Arabien als Öffnungsschritte in der arabischen Welt. Damit entfaltet der Text ein interessantes und vielschichtiges Panorama innerislamischer Debatten.

Die den Text auszeichnende Präzision wird mit der Bildauswahl völlig unnötig konterkariert. Und dies in zweifacher Hinsicht. Erstens wird durch die Bildunterschrift ein Bezug des Artikelthemas zum Integrationsgipfel der Bundesregierung hergestellt. Aber weder gibt es einen inhaltlichen Bezug zwischen dem Text und den Themen des Integrationsgipfel, der ja bewusst breiter aufgestellt ist als etwa die Deutsche Islamkonferenz, noch zeigt das Bild tatsächlich den 13. Integrationsgipfel. Stattdessen sind auf dem Bild laut dpa-Bilddatenbank Teilnehmer*innen des Bundeskongresses der Türkischen Gemeinde in Deutschland im Jahr 2017 zu sehen. Zweitens wird durch die Bildauswahl eine theologische Debatte innerhalb des sunnitischen Islam fotografisch auf das Symbol einer kopftuchtragenden Frau reduziert. Damit reproduziert die Redaktion klassische und oft kritisierte Klischees der Islamberichterstattung. Das kann auch der hinter der Bildquelle platzierte Zusatz „Illustration“ nicht ungeschehen machen.

 

 

Weitere aktuelle Beiträge

Sicher ist sicher: Eigene Adressen sperren

Journalist*innen sind in den vergangenen Jahren vermehrt zum Ziel rechter Angriffe geworden. Die Zahl tätlicher Übergriffe erreichte 2024 einen Rekordwert, so eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig. Die Autoren benennen die extreme Rechte als strukturell größte Bedrohung für die Pressefreiheit. Einschüchterungen oder sogar körperliche Übergriffe geschehen mitunter direkt an der eigenen Haustür. Den damit verbundenen Eingriff in das Privatleben empfinden Betroffene als besonders belastend.
mehr »

RTL schluckt Sky Deutschland

Mega-Fusion in der TV- und Streaming-Branche: Mit dem Kauf des Bezahlsenders Sky schickt sich die Bertelsmann-Tochter RTL Deutschland an, den großen US-Plattformen Netflix & Co. Paroli zu bieten.
mehr »

Compact-Urteil: Wehrhaft aber unwillig

Das Verbot des rechtsextremen Compact-Magazins ist vom Tisch. Am Dienstag entschied dies das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Der Chefredakteur des Magazins Jürgen Elsässer feierte die Entscheidung als eine Sternstunde für die Pressefreiheit, verglich den Fall gar mit der Spiegel-Affäre von 1962. Triumphierend erklärte er: „Sie konnten uns nicht verbieten, also können sie auch die AfD nicht verbieten.“
mehr »

Rechtes Rauschen im Blätterwald

Ob Neuerscheinungen, Zusammenlegungen, Relaunches oder altgediente rechte Verlage: Was die Periodika der Neuen Rechten, ihrer Parteien, Organisationen oder auch einflussreicher kleinerer Kreise anbetrifft, lässt sich gerade angesichts des rechtspopulistischen Aufschwungs der letzten etwa 20 Jahre viel Bewegung ausmachen.
mehr »