Beschäftigte, Leserinnen und Leser „übernehmen“ linke Zeitung
Der Schock saß tief, als die Gesellschafter im März – wenige Wochen vor dem 75. Zeitungs-Jubiläum – Belegschaft und Öffentlichkeit verkündeten, die Druck- und Verlags GmbH, die das „Neue Deutschland“ herausgibt, zum Jahresende auflösen zu wollen. „nd bleibt!“ protestierten Beschäftigte Tage später trotzig. Ob das stattdessen vorgeschlagene Genossenschaftsmodell eine gute Idee ist, wurde im vergangenen halben Jahr nicht nur erwogen. „nd bleibt anders“, heißt es inzwischen. Am 14. August 2020 stimmte eine Gründungsversammlung für die nd.Genossenschaft.
„Das „nd“ ist längst kein Parteiblatt mehr, es ist aber nicht unparteiisch. Wir machen Journalismus von links und glauben daran, dass es anders möglich ist …Die letzten Jahre hat das „nd“ keine Gewinne eingefahren, im Gegenteil: Die Zahlen sind tiefrot. Und obwohl das auch die Farbe der Linkspartei ist, will diese sich nun zurückziehen. Darin liegt auch eine Chance.“ So beschrieb Online-Redakteur Fabian Hillebrand, Mitglied der gewählten Genossenschaftsgründungsgruppe, den Lesern Mitte Juni den Diskussionsstand.
Nach durchaus kontroversen Debatten hatten im April 72 von 108 Stimmberechtigten für den Weg einer Genossenschaftsgründung votiert. Ende Mai waren aus mehreren Listen sieben Mitglieder für die Gründungsgruppe gewählt worden. Eigene Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit Satzung und Businessplan, weitere debattierten über Personalfragen, Unternehmenskultur und Zukunft, Workshops fanden statt und ein Newsletter machte Debatten und Ergebnisse für die Belegschaft transparent. Auch die Leser wurden informiert.
Nur wenige Wochen Zeit
Was nach einem basisdemokratischen Prozess und zugleich nach einem straff durchorganisierten Kampagnenplan klingt, musste in wenigen Wochen learning by doing aus dem Boden gestampft werden – in Pandemiezeiten, ohne Vorlauf und neben der aktuellen Zeitungsarbeit. Die unvermittelte Ansage der Gesellschafter – die Linkspartei über die Föderative Verlags-, Consulting- und Handelsgesellschaft (Fövag) sowie die Linken-nahe Communio-Beteiligungsgenossenschaft – setzte die Akteure gehörig „unter Druck“, wie es Georg Ramsperger vom Gründungsvorstand der nd.Genossenschaft formuliert. Die Gesellschafter wollten ganz offenbar keine Verluste mehr finanzieren. Die Belegschaft konnte nur reagieren.
Verschiedene Strategieansätze, auch konfrontative, seien unter den Beschäftigten debattiert worden. Man habe sich schließlich zusammengerauft. Seit ein gewähltes Verhandlungsgremium existiert, laufe die Zusammenarbeit auch mit den Gesellschaftern „sehr konstruktiv“. Nötige Zahlen habe man bekommen. Der strukturelle Dissens freilich blieb: „Wir versuchten, eine möglichst umfangreiche Anschubfinanzierung auszuhandeln; das Interesse der Gesellschafter war, es möglichst günstig für sich zu gestalten“, so Ramsperger. Inzwischen gibt es eine Einigung: Die Gesellschafter haben für die drei kommenden Geschäftsjahre Finanzhilfen zugesichert, die unabhängig von der wirtschaftlichen Situation fließen werden; es gibt zudem Zusagen für das vierte Jahr.
Nachdem eine Genossenschaftssatzung und der notwendige Businessplan vorlagen, beschloss die Gründungsversammlung Mitte August die gänzlich neue Unternehmensform für die Zeitung. 1946 mit Lizenz der sowjetischen Militärverwaltung gegründet, erreichte das „Neue Deutschalnd“ als Zentralorgan und Propagandainstrument der SED bis 1989 eine tägliche Auflage von einer Million und beschäftigte an die 1.800 Menschen in Redaktion, Verlag und Druckerei. Der Wandlungsprozess zur „unabhängigen sozialistischen Tageszeitung“ war mit einer Rückführung in die Rechtsform einer GmbH verbunden. „Die Linke unter den Großen“, wie sie anfänglich noch beworben wurde, befand sich bis 2007 im alleinigen Besitz der PDS. Ein rasanter Auflagenrückgang war trotz teils treuer Abonnenten- und Leserschaft und mehrfach überarbeitetem Design nicht aufzuhalten. Vor zehn Jahren wurden täglich noch etwa 38.000 Exemplare gedruckt, inzwischen wird die Auflage des nd mit 18.500 angegeben.
„Die Genossenschaft wird die ökonomische Grundlage sein, die diese linkspluralistische Stimme in der bundesdeutschen Medienlandschaft ermöglicht“, erklärte die Gründungsgruppe ihren Lesern nun die neue Existenzform, die „zu unserem inhaltlichen Anspruch passt“. Dabei soll sich die Genossenschaft aus Beschäftigten, Leser*innen und Unterstützer*innen zusammensetzen – ein Rahmen, der sowohl Unabhängigkeit als auch Beteiligung und Solidarität ermögliche. Das publizistische Credo bleibt, „mit linkem Ideengut über den Tellerrand des journalistischen Alltags hinaus“ zu denken.
„Bammel vor der riesigen Verantwortung“, bekennt Ines Wallrodt, Mitglied der Chefredaktion, die mit Matthias Ritter aus der Aboverwaltung und Layouter Georg Ramsperger in den Interims-Genossenschaftsvorstand gewählt wurde. Doch Wegducken sei keine Option. Inzwischen liegen die Gründungsdokumente für die nd.Genossenschaft beim zuständigen Prüfungsverband. Trotz engen Zeitplans soll der Betriebsübergang zum 1. Januar geschafft werden. Der Businessplan will das journalistische Know-how bei der Neuaufstellung in vollem Umfang erhalten. Die 60köpfige Redaktion produziert neben der täglichen Zeitung nd.DerTag und der Sonnabendausgabe nd.DieWoche auch eine Online-Ausgabe sowie diverse Podcast-Formate und Newsletter, etwa „Muckefuck“ speziell für Berliner Leser*innen.
Im Verlag dagegen sieht die Planung den Abbau von sechs Stellen vor. Auch externe Expertise habe angesichts realer Umsatzerwartungen, Auflagen- und Abonnentenzahlen die Notwendigkeit von Entlassungen bekräftigt. Ramsperger sieht darin den „belastendsten Teil“ der bisherigen Arbeit, auch wenn ein Sozialplan mit Betriebsrat und Gesellschaftern bereits weitgehend ausgehandelt wurde, man weiter nach Lösungen suche und hoffe, „dass niemand in unmittelbare existenzielle Not gerät“.
Prämisse für die Genossenschaftsgründung sei gewesen, Gehaltseinbußen oder die Ausweitung des Arbeitszeitpensum auszuschließen: „Ein ‚Working poor‘ war nicht verhandelbar.“ Zumindest ein Inflationsausgleich und die Übernahme bestehender Tarifverträge war Teil der Verhandlungen mit den Gesellschaftern. Für Gehaltssteigerungen erklärten die sich allerdings nicht zuständig und letztlich habe sich auch die Gründungsgruppe zugunsten von Stellen zunächst dagegen entschieden, so das Vorstandsmitglied.
Die ver.di-Betriebsgruppe und die Tarifkommission standen darüber im Austausch, berichtet dju-Landesgeschäftsführer Jörg Reichel. Angesichts aktueller Gehälter auf etwa 60 Prozent des bundesweiten Tarifniveaus kritisiert der Gewerkschafter, dass es nicht wenigstens eine mittelfristige Perspektive für Entgelterhöhungen gibt, zeigt sich aber insgesamt „vorsichtig optimistisch“ für die Zukunft der Genossenschaft.
Inhaltliche Ausgestaltung im Blick
Wie die inhaltlich und redaktionell weiter ausgestaltet werden soll, darüber gibt es Überlegungen in Arbeitsgruppen. Vorgestellt wurden sie allerdings noch nicht. Zu sehr war man bislang mit Formalia beschäftigt. Der Gründungsvorstand ist zudem auf der Suche nach einem neuen Geschäftsführer. Das nd habe bislang auch darunter gelitten, dass es „sowohl betriebswirtschaftlich als auch in der publizistischen Ausrichtung nicht genügend gesteuert wurde“, sagt Ramsperger. Und: „Ich gehe wirklich davon aus, dass wir die Geschicke nun selbst in der Hand haben und damit die Chance, unsere Zeitung besser zu machen.“ Eine gewisse „Bürde“ sei es schon gewesen, immer mit der Linken in Verbindung gebracht zu werden – so sehr die redaktionelle Unabhängigkeit betont wurde. Nun erhofft man sich eine veränderte Wahrnehmung als künftig nichtparteigebundene linke Stimme. Ungeachtet der Schwierigkeiten des aktuellen Zeitungsmarktes und der Herausforderungen des Neustarts setzt der Interimsvorstand darauf, dass eine linke Presse doch anders funktioniere als die großen Blätter. Den Austausch mit den Genossenschaften von „taz“ und „junge welt“ wolle man suchen.
Auf eine höhere Identifikation der Macher mit dem Produkt – es müssten jedoch nicht alle nd-Beschäftigten Genossenschaftler werden – und einen Bedeutungsgewinn in der medialen Wahrnehmung hoffen die Gründer, auch auf einen erweiterten Kreis von Anzeigenkunden. Intern soll die „größte Umstrukturierung seit der Wende“ überdies betriebliche Disfunk-tionalitäten beseitigen. Ein Pfund, mit dem man bei allem wuchern könne, sei die weiter starke Bindung an Leserinnen und Leser. Regelrecht „überwältigt“ habe den Vorstand die „wahnsinnig positive Resonanz“ auf die Genossenschaftsgründung. Im Herbst soll eine Werbekampagne die Zeichnung von Genossenschaftsanteilen weiter vorantreiben.