Das „ganze Bild“ von Ungleichheit zeigen

Dr. Bärbel Röben lebt als freie Journalistin und Medienwissenschaftlerin in Attendorn/Sauerland. 2013 veröffentlichte sie das Buch "Medienethik und die Anderen. Multiperspektivität als neue Schlüsselkompetenz", das Aspekte einer verantwortungsethischen Berichterstattung auslotet. Foto: Jan-Timo Schaube

Meinung

Vor allem reiche Menschen verursachen den Klimanotstand. Menschen mit Armutserfahrung werden bei der Gesundheitsversorgung diskriminiert. Wie sehr Ungleichheit die Lebensbedingungen in Deutschland prägt, wurde auf einer Fachtagung von Netzwerk Recherche und Wissenschaftszentrum Berlin deutlich – und auch, wie wir Journalist*innen faktenreich und empathisch über die Strukturen hinter diesen sozialen Schieflagen berichten können.

„Wir rennen dem Scoop hinterher – was auch Spaß macht, aber gar nicht wichtig ist“, sagte Frederik Richter, Vorstandsmitglied bei Netzwerk Recherche (NR), selbstkritisch. Er hoffe, dass durch die neue NR-Gruppe Sozialjournalismus eine tragfähige Verbindung mit der Wissenschaft entsteht, die zu einer stärkeren Beobachtung von Ungleichheitsstrukturen führt. In der Tat: Expert*innen aus der Forschung und „in eigener Sache“ liefern viele Anregungen für einen Journalismus, der seine Rolle als vierte Gewalt ernst nimmt.

Rolle der Reichen stärker beleuchten

Weert Canzler, Sozialwissenschaftler und Mobilitätsforscher im Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), belegte an Beispielen, dass wenige reiche Menschen Verursacher*innen des Klimanotstandes sind, aber vor allem die ärmere Bevölkerung die Folgen spürt. So verbrauchen in Deutschland zehn Prozent der reichen Haushalte ein Viertel der Energie. Da wünsche ich mir mehr aufklärende Sendungen wie „Das Klima und die Reichen“, die Anfang dieses Jahres vom Magazin Panorama ausgestrahlt wurde!

Zuschüsse für stromsparende Photovoltaikanlagen kassieren diejenigen, die Haus und Geld für Investitionen haben. „Arme werden gern für Anti-Klimaschutz-Argumentationen missbraucht – bis weit in die Linke hinein“, so Canzler mit Verweis auf Klaus Ernst, der von „berechtigten Ängsten der abhängig Beschäftigten“ sprach, die „Risiken für ihre künftige Mobilität“ befürchteten, wenn die Pendlerpauschale abgeschafft würde, um CO-2-Ausstöße zu verringern. Die gleiche Instrumentalisierung findet sich in Argumentationen gegen das Verbrenner-Aus und das geplante Verbot, ab 2024 neue Öl- und Gasheizungen einzubauen.

Umverteilungsmechanismen von unten nach oben thematisieren

Statt solche politischen Narrative zu übernehmen, sollten Journalist*innen über Klima als Querschnittsthema differenzierter, mit mehr Kontext berichten, kurzum: „Das ganze Bild zeigen“, waren sich alle einig. Dazu gehört auch, die Klimaschutzmaßnahmen stärker zu thematisieren, die einen Umverteilungsmechanismus zugunsten ärmerer Bevölkerungsschichten beinhalten. Dirk Arne Heyen vom Öko-Institut in Berlin nannte als Beispiel die staatlichen Einnahmen aus der CO-2-Bepreisung, die als Klimabürgergeld pro Kopf zurückgezahlt werden sollen, denn davon profitierten ärmere Haushalte stärker als reiche. Susan Schmidt, Referentin für „Stadtentwicklung, Bauen und Umwelt“ in Frankfurt/Oder berichtete, dass die Verwaltung zusammen mit den Stadtwerken einen Fonds aufgelegt hat für Bürger*innen, die ihre Energierechnung nicht mehr zahlen können.

Auch in der Berichterstattung über Gesundheit werden politische Ungleichheiten reproduziert. So kritisierte Stefan Pospiech, Geschäftsführer von Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V., dass es vor allem um politische Machtfragen in der Gesundheitspolitik gehe oder Einzelschicksale herausgegriffen würden ohne sie in den Kontext einzuordnen und auf Organisationen von Betroffenen zu hören. So hatte sein Verein frühzeitig über die gravierenden Folgen der Pandemiebedingten Lockdowns für benachteiligte Kinder informiert, konnte damit aber – sicherlich erschwert durch die Instrumentalisierung des Diskurses seitens der Coronaleugnenden – lange kein Gehör finden. „Jetzt arbeitet man es auf“, so Pospiech. Jennifer Hoefers vom Solidarischen Gesundheitszentrum Leipzig e.V. kritisierte, dass in der Berichterstattung strukturelle Ursachen von Ungleichheiten im Gesundheitssektor vernachlässigt werden, die auf Probleme mit Wohnung, Sprachbarrieren, Zugang zur Gesundheitsversorgung und Diskriminierungen zurückgehen.

Selbstwirksamkeit der Menschen mit Armutserfahrung stärken

WELT-Redakteur Jörg Wimalasena konstatierte eine „gewisse Mittelstandsverseuchung im Journalismus“. Mit Rückblick auf die vergangenen 20 Jahre meinte er, dass sich nur wenige Kolleg*innen „für das Thema Armut interessieren“ und Sozialhilfebezieher*innen „durch den Dreck ziehen“. Seine These belegen auch verschiedene Studien zur Armutsberichterstattung. Inzwischen gebe es weniger Sozialpornografie und mehr empathische Debatten, so Wimalasena: „Das Elend ist kein Schicksalsschlag mehr, sondern hat politische Gründe.“ Auf Twitter kämen Initiativen zur Selbstwirksamkeit zu Wort wie #ichbinarmutsbetroffen – eine Bewegung, die sich für höhere Grundsicherungssätze in Deutschland einsetzt.

Dort engagiert sich auch die gelernte Buchhändlerin Renate Antonia Krause aus Kiel. Sie ist im Vorstand des Kieler Vereins Groschendreher, einem Bündnis gegen Altersarmut und wünscht sich von Journalist*innen eine sensible Wortwahl und mehr Empathie bei Interviews. So solle man nicht von „Armutsbetroffenen“ sprechen, sondern von „Menschen mit Armutserfahrung“, das klinge aktiver! Gleich zu Beginn eines Interviews sei sie einmal gefragt worden: “Wie fühlen Sie sich?“ Sie wolle aber nicht auf ihre Gefühlslage reduziert werden, sondern von ihren Erfahrungen berichten und ihre politischen Forderungen aufstellen. Zwei weitere Frauen mit Armutserfahrung hatten zumeist Reporter*innen erlebt, die ihnen auf Augenhöhe begegneten, d.h. sie nahmen vor einem Gespräch telefonisch Kontakt auf und respektierten Grenzen – wie kein Treffen in der eigenen Wohnung oder die Kinder nicht zeigen.

Mythos der Leistungsgesellschaft hinterfragen

Die verzerrte Wahrnehmung von Ungleichheit erforscht Claudia Diehl, Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz. Ökonomische Benachteiligungen würden häufig unterschätzt, sodass politische Ungleichheiten sich verfestigten, sagte sie und nannte Beispiele. Wenn Menschen Angst haben, bei einer Erhöhung der Erbschaftssteuer „Omas Häuschen“ zu verlieren, wissen sie nicht, wen die Abgabe trifft. Wenn es heißt „Ohne Pendlerpauschale kommt der kleine Mann nicht zur Arbeit“, wird verschleiert, dass diese Subvention faktisch eine Umverteilung von unten nach oben ist. Wenn Studiengebühren unter dem Motto „Bildung ist ein Recht für alle“ abgeschafft werden, dann profitieren von einem kostenlosen Studium vor allem reiche Menschen.

Schon Jugendliche akzeptierten das gängige Narrativ „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, d.h. wer sich anstrengt und etwas leistet, schafft den sozialen Aufstieg. In einer Befragung führten sie schlechte Noten eher auf Faulheit zurück als auf arme Eltern, die sie nicht unterstützen konnten. Gesellschaftliche Ungleichheit werde so durch das Leistungsprinzip legitimiert, das eine „Meritokratie“ kennzeichne, so Diehl.

Schallverstärker“ für wissenschaftliche Erkenntnisse

Der Austausch zwischen Wissenschaft und Medien kann Journalist*innen dabei unterstützen, Strukturen der Ungleichheit zu erkennen und ihre Kontrollfunktion gegenüber der Politik wahrzunehmen. Pia Jaeger, gelernte Journalistin und Projektleiterin der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendpolitik am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München, betrachtet Medienschaffende als „Schallverstärker“ für Forderungen an die Politik, etwa beim Thema Kindergrundsicherung. Sie hatte den sozialpolitikblog mit aufgebaut, der sich als „Diskussionsforum zu aktuellen Themen der Sozialpolitik und der Sozialpolitikforschung“ versteht. Neben Wissenschaftler*innen schreiben dort auch Journalist*innen, die ein Honorar bekommen. Ihre Texte stoßen auf viel Resonanz in der Öffentlichkeit und in der Fachcommunity.

Interessante Informationen für Datenjournalist*innen hatte Markus Grabka, der beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW zuständig ist für das Sozioökonomische Panel SOEP. Er berichtete, dass der Zugang zu den Datenbanken nutzerfreundlicher werden soll, um den Wissentransfer zu erleichtern. Der promovierte Politologe Harald Wilkoszewski und Pressesprecher des WZB schätzt den Austausch mit Journalist*innen, die im Journalist-in Residence-Programm sechs Wochen bis drei Monate im WZB recherchieren. Der Gastaufenthalt des Journalisten Okan Bellikli, dem Leiter der Fachgruppe Sozialjournalismus begünstigte die Entstehung der Fachtagung zu Ungleichheit.

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