Armutszeugnis für Berichterstattung

Karikatur: Gerhard Mester

Armutsbetroffene gehören „in die Mitte unserer Wahrnehmung“. Es sei falsch, sie dem „Unterschichtenfernsehen“ der Privatsender zu überlassen, das Klischeebilder von faulen, alkoholsüchtigen, schmutzigen und rauchenden Menschen zeigt. Zu diesem Fazit kommt Medienforscher Bernd Gäbler in „Armutszeugnis“, dem jüngsten Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung (OBS), das eine Diskussion über respektvolle Armutsberichterstattung anregen will.

Autor Gäbler übt scharfe Medienkritik und provoziert – bereits im Untertitel „Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt“. Mit dem klischeehaften Begriff wird die „Unterschichtenfernsehen“-Debatte von 2005 aktualisiert, die den Blick auf die durchaus anregenden Programmbeobachtungen und Interviews zur Armutsberichterstattung verstellen könnte.

Gäbler hat zwischen September 2019 und Januar 2020 mehr als hundert Stunden RTL 2 geschaut und Sendungen wie „Hartz und herzlich“ und „Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?“ unter die Lupe genommen. Gezeigt werden dort soziale Brennpunkte in ganz Deutschland und einige ihrer Bewohner*innen, „die irgendwie besonders sind – besonders kinderreich, besonders skurril, besonders laut, besonders krank.“ Alle Protagonist*innen würden nur beim Vornamen genannt und hinter vordergründigem Mitgefühl verberge sich im TV-Kommentar Häme. Als etwa Jenny „erklärt, dass sie Wert auf Sauberkeit lege, wird dies durch die Kamera konterkariert: Wir sehen eklige Kakerlaken.“ Die Menschen würden vorgeführt, glauben, endlich lasse sie mal jemand zu Wort kommen, resümiert Gäbler und „regelmäßig werden sie dann hinterrücks in die Pfanne gehauen“.

Klischee: faul und schmutzig

Im OBS-Arbeitspapier finden sich neben den Programmbeobachtungen Gäblers auch Interviews – etwa mit einer Protagonistin von „Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?“. Sie sagt: „Ich bereue das total!“ Sie habe „hauptsächlich wegen der Kohle“ mitgewirkt und werfe den Programmmacher*innen vor, „dass die nie so drehen wollten, wie ich das wollte, dass man nichts wiederholen durfte.“ Das hat Methode, denn – so Gäblers Zwischenfazit: „Die Kamera wird als Machtinstrument benutzt, um Menschen bloßzustellen, die nicht erfahren genug sind, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. Sie werden ausgestellt, weil sie nicht in der Lage sind, die Folgen ihres öffentlichen Auftritts zu überblicken.“

Wenn Menschen mit Armutsgeschichte als „schmutzig und faul“ erscheinen, bedienen sie Klischees, durch die gesellschaftliche Ungleichheitslagen und Polarisierung zwischen den sozialen Schichten verfestigt werden. Gäbler schreibt, die Sendungen würden entlang der vermuteten Erwartungen eines Publikums produziert, das sich einerseits empören und andererseits abgrenzen wolle vom „unteren Rand“ der Gesellschaft. Die herablassende Perspektive auf die „Unterschicht“ wiederum verletze das Selbstwertgefühl der sozial Benachteiligten.

Unterschiedliche Adressaten

Neben der gesellschaftlichen Spaltung gebe es auch eine mediale: Privatsender wie RTL adressierten die „Unterschicht“ und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vor allem die Mittelschicht. ARD und ZDF berichteten zwar über Armut – etwa im Wirtschaftsmagazin „WISO“, das besonders Menschen mit geringem Einkommen Orientierung bieten wolle und Jobverlust, Pfändung, Altersarmut, steigende Mieten thematisiere. Aber längere Dokumentationen über Armut würden selten auf hervorgehobenen Programmplätzen ausgestrahlt. Auch in fiktionalen
Formaten wie Krimis und Spielfirmen dominiere die „saturierte Perspektive der Mittelschichten“. Das wiederum hänge damit zusammen, dass die meisten Programmmacher*innen auch dieser Schicht entstammten.

Einer der wenigen, die aus einem Arbeiterhaushalt kommen, ist der Radio-Bremen-Reporter Holger Baars. „Ich will Realität zeigen, aber niemanden vorführen“, sagt er im Gespräch über eine faire Darstellung von Menschen, die am Rande der Wohlstandsgesellschaft leben. Zunächst spreche er mit ihnen ohne Kamera, um begreiflich zu machen, was es bedeutet, wenn sie später im Fernsehen und im Netz zu sehen sind. Sie bekommen kein Geld für ihre Mitwirkung, denn „gekaufte Protagonisten würden eine Rolle spielen, sie wären nicht mehr authentisch.“ Um Klischees zu vermeiden, rede er viel mit den Menschen, recherchiere, frage nach dem „Warum“ ihrer Lebenssituation, denn sie hätten meist eine interessante Biografie wie der ehemalige Zahnarzt oder die freie Print-Kollegin, die er bei der Tafel traf.

Gäbler konstatiert ein „großes Defizit bei der Darstellung sozialer Themen“ und fordert neue Erzählformen. Die entdeckt Filmemacherin Aelrun Goette besonders auf Streaming-Plattformen, wo Held*innen „diverser, gebrochener, weiblicher“ geworden sind. Es gehe darum, wie man sich in eine andere Welt begebe: “Geht man offen hinein oder nicht, stellt man ernsthaft Fragen oder weiß man schon die Antwort, bevor man gefragt hat.“ Mit Verweis auf Positivbeispiele in Großbritannien oder Frankreich fordert Gäbler von ARD und ZDF, Menschen am Rande der Wohlstandsgesellschaft so darzustellen, dass diese auch stärker ihre Programme schauen. Schließlich hätten die Rundfunkanstalten einen öffentlichen Auftrag, alle Bürger*innen medial zu bedienen.

Fazit  und Ausblick

Es hätte dem Arbeitspapier gut getan, Kritik am „Unterschichten“-Begriff, wie ihn Elisabeth Klaus  und Jutta Röser äußern, nicht in Fußnoten zu verbannen. Die beiden Kommunikationsforscherinnen schreiben: „Die ‚Unterschichten‘ auf dem Bildschirm und davor sind mediale Inszenierungen, die die gesellschaftlichen Teilungen stützen und jenen neoliberalen Mythen Vorschub leisten, denen zufolge heute allein Leistung und individuelle Kompetenzen zählen.“ Das bestätigen explorative Studien zum moralisierenden Hartz-IV-Diskurs in Boulevardmedien. Für die Diskussion über respektvolle Armutsberichterstattung ist es deshalb wichtig, neben Gäblers kritischen Medienbeobachtungen weitere Aspekte in den Blick zu nehmen.

Erstens gilt es, die Kritik durch empirische Studien zu untermauern bzw. zu überprüfen, um sie besser einordnen zu können. So erstellte Maya Malik 2010 z.B. im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eine Untersuchung „Zum Umgang der Medien mit Armut und sozialer Ausgrenzung“, die nicht nur TV, sondern auch Hörfunk, Presse und Onlinemedien analysiert. Zweitens sollte die gesellschaftspolitische Funktion einer solch diskriminierenden Armutsberichterstattung mit Blick auf Verteilungskämpfe, soziale Gerechtigkeit genauer unter die Lupe genommen werden. So hatte Frank Oschmiansky bereits 2003 festgestellt, dass Arbeitslose in immer wiederkehrenden „Faulheitsdebatten“ als Sündenböcke für eine verfehlte Arbeits- und Sozialpolitik herhalten müssen.

Autor Gäbler und die OBS verbinden das Resümee ihres Arbeitspapiers mit einem Aufruf an Journalismus- und Sozialverbände, gemeinsam mit den Betroffenen einen „Leitfaden zur respektvollen Armutsberichterstattung“ zu erstellen, wie ihn die Armutskonferenz in Österreich schon vor einigen Jahren präsentiert hat. Zwei Mitglieder der österreichischen Initiative berichten im M-Podcast zum Beispiel, wie Armutsthemen auch seriös in Boulevardmedien vermittelt werden können.

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