Der französische Film, eine fesselnde Mischung aus Krimi und Justizdrama, erzählt eine schockierend wahre Geschichte: Die führende Gewerkschaftsfunktionärin des staatlichen Atomkonzerns wird im eigenen Haus überfallen und vergewaltigt, weigert sich jedoch, sich ins übliche Opferbild zu fügen. Weil die Ermittlungen zudem einige Ungereimtheiten offenbaren, kommt es zu einer Umkehrung der Rollen: Sie wird angeklagt, die Tat vorgetäuscht zu haben, und schließlich schuldig gesprochen.
Schon allein dieser Teil der Biografie von Maureen Kearney ist unerhört und deshalb ein formidabler Filmstoff. Jean-Paul Salomés Adaption eines Tatsachenromans der Journalistin Caroline Michel Aguirre behandelt aber weit mehr als nur einen Justizskandal. Diese Ebene dominiert zwar die zweite Hälfte der Handlung, doch der Stoff ist zudem Wirtschafts- und Polit-Thriller. Der Titel „Die Gewerkschafterin“ entspricht dem der Buchvorlage („La syndicaliste“), ist allerdings viel zu schlicht für das auch über zwei Stunden fesselnde Drama, das zugleich eine doppelte Verbeugung ist: vor der Hauptfigur und ihrer Darstellerin.
Tatsächlich geht Isabelle Huppert, die mit Salomé bereits die Krimikomödie „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ (2020) gedreht hat, komplett in ihrer Rolle auf. Genau genommen verschwindet die abgesehen vom „Oscar“ mit allen wichtigen Filmpreisen geehrte Französin ebenso wie die Frau, die sie verkörpert, hinter einem Erscheinungsbild, das wie eine Rüstung in feindlicher Umgebung wirkt. Dies ist nicht nur eine weitere Ebene des Films, sondern sein eigentliches Thema: Die gebürtige Irin Kearney repräsentiert als Personalrätin beim Nuklearkonzern Areva 50.000 Angestellte. Kleidung und Schmuck sind betont auffällig, das Make-up ist wie eine Schutzschicht. Als sie 2011 von einem Informanten erfährt, dass das Unternehmen in den Energiekonzern EDF integriert werden soll, kämpft sie mit allen Mitteln um den Erhalt der Arbeitsplätze, zumal sie davon ausgeht, dass eine geplante Kooperation mit China beim Bau von Atomkraftwerken zum Verlust des technologischen Vorsprungs führen würde.
Bis heute ist nicht geklärt, ob der 2012 stattgefundene Überfall mit Kearneys hartnäckigem Engagement zusammenhängt. Dass sie just an diesem Tag einen Termin beim neuen Staatspräsidenten François Hollande hatte, um ihre Bedenken an höchster Stelle vorzubringen, könnte natürlich auch ein allerdings eher unwahrscheinlicher Zufall sein. Die Untat ist von einer Widerwärtigkeit, an der viele Menschen zerbrechen würden. Für die rechtsmedizinische Untersuchung gilt das im Grunde nicht minder, erst recht jedoch für die Schlussfolgerungen, die die allesamt männlichen Ermittler aus den Ergebnissen ziehen.
Dass die Handlung erst nach der Gewalttat einsetzt und Salomé die Vorgeschichte über den Kampf der Funktionärin um die Arbeitsplätze als Rückblende erzählt, sorgt für zusätzliche Spannung. Erst Jahre später kommt es zur Wiederaufnahme des Verfahrens: Eine junge Polizistin ist auf ein geraume Zeit zurückliegendes Verbrechen gestoßen, das offenkundig ebenfalls der Einschüchterung diente; Kearneys Besuch bei der betroffenen Frau verschafft Alexandra Maria Lara einen kurzen, aber sehr intensiven Auftritt. „Die Gewerkschafterin“ ist spannend wie ein Krimi; und dennoch vor allem Hommage an eine Frau, die sich in einer sexistischen Männerwelt behauptet.
„Die Gewerkschafterin“ kommt am 27. April in die Kinos.