Das Berliner VR-Studio Nowhere Media kreiert seit Jahren Virtual Reality-Stücke zu politischen und sozialen Brennpunktthemen. Ihre Produktion „You destroy – we create” über den Krieg gegen die Ukraine ist jetzt für einen Emmy nominiert worden. Die VR-Experience führt Nutzer*innen zu immersiven Begegnungen mit Künstler*innen in der Ukraine, die ihre Kultur schützen möchten, aber auch herausfinden wollen, was Kunst im Krieg leisten kann.
Weltweit zu Festivals eingeladen und mit wichtigen VR-Preisen ausgezeichnet zu werden, ist für Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke nichts Außergewöhnliches. Die beiden Journalist*innen und Filmemacher*innen waren mit ihren immersiven VR-Dokus bei vielen namhaften Festivals eingeladen – von der Biennale in Venedig bis zum South by Southwest in Austin / Texas. Oft wurden ihre Arbeiten dabei in den VR-Wettbewerben der Festivals prämiert.
Dass ihre aktuelle VR-Experience „You destroy – we create – The War on Ukraine`s Culture” jetzt aber für einen Emmy, den vielleicht wichtigsten TV-Preis, nominiert wurde, ist ein spektakulärer Quantensprung für das kleine Berliner Studio, das in einer unauffälligen Fabriketage im Bezirk Alt-Treptow zu Hause ist.
Das Stück ist eine immersive Reise durch ein Land im Krieg und ein berührendes Rendezvous mit ukrainischen Kulturschaffenden. Realisiert wurde es mithilfe des Meta-Konzerns, zu dem mit Oculus auch eine Tochter für VR-Hardware und -Produktion gehört. Meta unterstützt VR-Produktionen mit gesellschaftlicher Relevanz mit seinem Programm „VR for Good”.
Dokumentationen erfahrbar machen
Die etwa 25-minütige Immersion läuft auf der Meta Quest VR-Brille und somit im Meta-eigenen Meta Quest TV, einer Art von eigenem YouTube für User*innen der Brille. „Wer die Brille nutzt, kann über eine App auf das Quest TV zugreifen. Wenn man dort den Suchbegriff Ukraine eingibt, stößt man als erste oder zweite Fundstelle auf unsere VR Experience. Die Lösung ist in den USA weit verbreitet. Deshalb ist die Emmy-Nominierung natürlich großartig für uns”, freut sich NowHere-Gründer Felix Gaedtke.
Nicht erst mit der Emmy-Nominierung erntet das Berliner Produzent*innen-Paar die Früchte seiner sehr ungewöhnlichen Labor- und Feldarbeit. Laborarbeit, weil die dokumentarischen immersiven VR-Projekte der beiden eine technisch aufwändige digitale Vorbereitung, Produktion und Postproduktion verlangen. Feldarbeit , weil Parameswaran und Gaedtke vor Ort und dabei oft an Orten und in Situationen drehen, die für Journalist*innen gefährlich, oder zumindest herausfordernd sind.
Anders als herkömmliche Reportageteams, bewegen sie dabei teilweise umfangreiche und komplexe Equipments. Teilweise in kritischen Sicherheitslagen. Beim „You destroy”-Dreh in Charkiw etwa, war die Front in unmittelbarer Nähe. In Falludscha drehten sie für ihr VR-Stück “Home after War” unter verschärften Sicherheitsbedingungen.. „An ein Sicherungssystem, wie die öffentlich-rechtlichen Kolleg*innen waren wir nicht angeschlossen. Unsere ukrainische Produzentin Irina hatte die Lage aber immer gut im Blick. Wir selbst sind auch so gut vernetzt dort, dass wir über Telegram jederzeit Warnhinweise oder Ähnliches bekommen konnten und eigentlich immer gut orientiert waren, über den Frontverlauf” berichtet NoWhere-Gründerin Gayatri Parameswaran vom Ukraine-Dreh.
VR-Erfahrungen als Empathiemaschinen
Immer wieder suchen sich die beiden Themen, die zwar auch in den Mainstream-Medien auftauchen, dort den „Medien-überlasteten” Zuschauer*innen aber oft nur noch wenig berühren. VR-Erfahrungen auf Virtual Reality-Brillen werden gelegentlich auch als „Empathiemaschinen” bezeichnet. Durch die intensive optische und akustische, dreidimensionale und oft 360 Grad umfassende Wahrnehmung kommen einem Krieg und Krisen auch bei manchen Nowhere-Produktionen unangenehm nahe.
Etwa bei dem beklemmenden “Home after War”, bei dem man mittels der Brille das vom IS verminte Haus einer irakischen Flüchtlingsfamilie erkundet. Für den Dreh arbeitete das Nowhere-Team unter verschärften Sicherheitsbedingungen im gerade vom IS befreiten irakischen Falludscha.
Andere Stücke thematisieren scheinbar weniger spektakuläre, sozial aber genauso virulente Themen aus dem Nahbereich: Die Kinderarmut in Berlin, die die beiden mithilfe des Kinderzirkus Cabuwazi visualisieren, die Sinneswahrnehmungen von depressiven Menschen, die Mobilität in einem Berlin der nahen Zukunft.
Die Rettung bedrohter Kulturen ist eines der Schwerpunktthemen bei NoWHere Media. Für „Kusunda” besuchten Parameswaran und Gaedtke eine Kleinfamilie in einem abgelegenen Teil Nepals, die zu einer Ethnie gehört, deren Kultur und Sprache auszusterben droht. Während der etwa 25-minütigen Installation mit Familienszenen, Eindrücken vom Leben im Urwald und kurzen interaktiven Sprachübungen bekommt man als Betrachter unter der Brille einen plastischen Eindruck vom Leben der Kusunda und ihrer zunehmenden kulturellen Isolation.
Dabei fühlen sich die beiden Filmemacher*innen einem konstruktiven, lösungsorientierten Journalismus verpflichtet. Beim MIZ Babelsberg gehörten sie zur Projektgruppe Constructive VR, die die Möglichkeiten konstruktiven Berichtens mittels Virtual Reality auslotet.
Gerne bringen Parameswaran und Gaedtke ihre VR-Arbeiten selbst zum Publikum, mit persönlichen Auftritten und Installationen bei Konferenzen und Festivals, etwa bei der re:publica in Berlin. Und wenn es sein muss, folgen sie Politiker*innen und Wirtschaftsvertreter*innen bis zu deren globalen Meetings und Events, etwa zum Weltwirtschaftsforum nach Davos oder zeigen die Stücke in Botschaften und Instituten weltweit.
Und immer möchten sie gesellschaftlich wirksam werden, über die reine Dokumentation von Missständen hinaus. So wird „You destroy – we create” auch als Tool zum Fundraising eingesetzt. Die NGO ALIPH zeigt die Produktion im Rahmen ihrer Donor Events. Dorthin kommen vorwiegend Ländervertreter*innen, die Geld spenden. „So lief das Stück – allerdings in einer auf fünf Minuten gekürzten Version, denn wichtige Menschen haben wenig Zeit – auch bei einer Geberkonferenz für die Ukraine in Abu Dhabi und beim Weltwirtschaftsforum in Davos”, berichtet Gayatri Parameswaran. Für Kusunda ließen die beiden Multimedia-Dokumentarist*innen ein Übungstool programmieren, um zur Rettung der Sprache beizutragen.
Abhängigkeit von Tech-Firmen
Dass sie wegen der eingesetzten VR-Technologie immer auf die großen Techkonzernen angewiesen sind, beurteilen die beiden Berliner*nnen ambivalent. „Ich finde die Zusammenarbeit mit einem großen Tech-Konzern, ob Meta, Google oder Microsoft grundsätzlich immer kritisch. Man kommt aber, wenn man VR-Produktionen realisiert, wie wir es tun, an deren großen Plattformen und deren Hardware einfach nicht vorbei”, sagt Gaedtke. Und Parameswaran ergänzt: „Meta hat ein grundsätzliches technisches Verständnis für unserer Arbeitsweise und wusste genau, was wir an Ausstattung benötigten”. Immerhin haben die beiden die volle Editorial Control über ihre Produktion behalten und konnten sie so gestalten, wie sie es wollten.
Gerade ist die Emmy-Verleihung wegen des Schauspieler*innen-Streiks in Hollywood vom September auf den Januar verschoben worden. Doch selbst wenn Parameswaran und Gaedtke dann nicht auf der Bühne stehen sollten, haben sie ihre Arbeit und ihre Themen mit der Nominierung bereits jetzt ins Rampenlicht einer größeren Öffentlichkeit gestellt.