Kommt der Dokumentarfilm der Zukunft in VR und 360 Grad mittels Datenbrille zu uns? Gerade scheinen immersive Virtual Reality-Produktionen im Dokubereich Konjunktur zu haben. “Home after War” ist ein besonders gelungenes Beispiel für das Genre. In der VR-Doku wandert der Nutzer selbstständig durch das stille Haus einer aus dem Krieg zurückgekehrten irakischen Familie und lernt so ihre Geschichte kennen. Der Film war für den gestern in Babelsberg verliehenen „VR Now Award“ für Virtual Reality, Mixed Reality und 360 Grad-Video nominiert.
Bereits 2017 hatte der mexikanische Filmemacher Alejandro Iñárritu („Birdman“, „The Revenant“) das Publikum in Cannes mit seiner VR 360-Installation „Carne y Arena“, einem Stück über das Schicksal mexikanischer Geflüchteter, berührt. Anlässlich der Berlinale und später im Jüdischen Museum zeigte der Berliner Filmemacher Dani Levy seine VR 360-Kurzfilme “Faith, Love, Hope, Fear” und ließ in ihnen den schwierigen Alltag im geteilten Jerusalem lebendig werden (M berichtete).
Nun waren gestern beim Technologiefestival MediaTech Con in Potsdam gleich drei Virtual Reality-Produktionen mit dokumentarischen und biographischen Themen für den im Rahmen der Konferenz verliehenen „VR Now Award“ nominiert: Neben Levys Jerusalem-Stück auch die Virtual Reality-Erfahrung „Home after War: Returning to Fear in Fallujah“.
Wer sich mittels VR-Brille diesem 20- bis 30minütigen immersiven VR-Erlebnis aussetzt, der macht die beeindruckende Erfahrung, dass Virtual Reality eine Wirksamkeit entfalten kann, die herkömmliche Doku- und Newssendungen nicht mehr erreichen: den Zuschauer_innen eine unmittelbare Erfahrung zu vermitteln, was Krieg für die Opfer bedeutet. Ist VR 360 möglicherweise als technisches Setup für dokumentarisches besser geeignet als für fiktionale Projekte?
Gayatri Parawesmaran würde dem zustimmen. Zusammen mit ihrem Partner Felix Gaedtke hat die Journalistin das immersive VR 360-Stück „Home after War“ geschaffen. Sie hat keine Vorbehalte gegen fiktionale VR-Projekte und fiktionales Storytelling, hält das Medium VR 360 aber besonders geeignet für Dokustoffe: “Man kann die Zuschauer wirklich mitnehmen”, sagt sie. “Die Authentizität der Erfahrung ist unübertreffbar, weil du dich als individueller Zuschauer ganz selbständig durch den Raum bewegst”, ergänzt Felix Gaedtke. Natürlich seien auch bei VR künstlerische Entscheidungen des Regisseurs bzw. der Regisseurin, geschnittene Videos etc. involviert, aber letztlich hätten die Nutzer_innen das Gefühl einer Selbständigkeit in der Geschichte, “und das macht sie so eindrücklich und authentisch”, ist sich Gaedtke sicher.
„Home after War“ entstand im Rahmen des „Oculus VR for Good“-Programms, mit dem der VR-Brillen-Hersteller Oculus Inhalte-Anbieter unterstützt und Filmemacher_innen mit NGOs zusammenbringt. Die finanzieren dann die Produktion. Als Partner für Parawesmaran und Gaedtke wählte Oculus die NGO Geneva International Centre for Humanitarian Demining (GICHD) aus. Eine NGO, die sich weltweit bei der Räumung von Minen engagiert. Die beiden Berliner_innen Parameswaran und Gaedtke wiederum qualifizierten sich durch ihre Reportagen aus Krisengebieten, auch aus Syrien und dem Irak. Dort hatten sie für die Deutsche Welle, den Deutschlandfunk und die englischsprachige Al Jazeera produziert. Seit zwei Jahren arbeiten die beiden nun mit Virtual Reality und Augmented Reality (AR).
Als Thema ihres VR-Stücks entschieden sie sich für das Phänomen der sogenannten IEDs (Improvised Explosive Devices), improvisierte Sprengfallen. “IEDs gibt es unseres Wissens nach nur in Syrien und im Irak. Das und die Tatsache, dass dieses Problem Rückkehrer, also Menschen die eigentlich nach ihrer Flucht in die Sicherheit ihrer Häuser zurückkehren, betrifft, hat uns sehr bewegt und war Auslöser des Projekts”, berichtet Parawesmaran.
Der sich anschließende Dreh im gerade vom IS befreiten Falludscha war durchaus riskant. Zwar war der IS im Dezember 2017 militärisch besiegt, doch existierten noch zahlreiche Schläferzellen und die irakische Polizei ging von bis zu 30 Prozent IS-Sympathisant unter den Einwohner_innen aus. Gefährlich waren vor allem Sprengfallen und Landminen, die dort noch überall lagen. ”Militärs, mit denen wir unterwegs waren, schärften uns immer wieder ein, genau in den Fahrspuren der Autos zu laufen – keinen Zentimeter daneben”, erinnert sich Parawesmaran zurück. An den Straßenrändern sahen die beiden Filmemacher_innen „trigger plates“, Gehwegplatten, die mit Auslösern für Sprengladungen ausgestattet sind. Daneben spielten Kinder Fußball.
Die photogrammetrischen Aufnahmen des Hauses, in dem sich die Nutzer_innen später bewegen sollten, wurden mit einer DSR-Kamera (Sony DSR a7r3) und einem Super-Weitwinkelobjektiv (Voigtländer 10mm) gemacht, die Aufnahmen der Personen mit einer 360-Grad-Kamera. “Wir haben von jedem Raum circa 200 bis 400 Aufnahmen gemacht – immer aus verschiedenen Perspektiven,” erklärt Gaedtke. Die Protagonist_innen dagegen wurden ganz herkömmlich vor einem Greenscreen gefilmt. “Darum sind diese Szenen nicht wirklich volumetrisch, die Gegenstände im Haus aber schon”, merkt Felix Gaedtke an. Das fertige Material wurde dann von der Berliner Firma realities.io softwaretechnisch weiter verarbeitet.
Nach der Fertigstellung tourt „Home after War“ nun seit diesem Jahr über die Festivals. Die Produktion war auf Einladung der Biennale in Venedig, dann in Norwegen, Tschechien, bei den VR Days in Amsterdam und beim ZKM (Zentrum für Kunst und Medien) in Karlsruhe eingeladen. Und gestern hofften die Berliner auf die Auszeichnung mit dem VR-Preis „VR Now Award“ in Babelsberg. Gewonnen in der Kategorie VR Cinema hat dann allerdings die Produktion „Vestige“ über das Erinnern einer Frau an ihren verstorbenen Geliebten.