Filmtipp: Blindgänger

In dem sehenswerten Ensemble-Drama „Blindgänger“ ändert sich das Leben einiger Menschen abrupt, als in ihrem Hamburger Viertel eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt wird. Der Fund führt nicht nur zu einer weitreichenden Evakuierung, sondern auch zu einem zwischenmenschlichen Ausnahmezustand: Einige wachsen im Angesicht der Bedrohung über sich hinaus, andere werden ganz klein.

In extremen Situationen reagieren die Menschen ganz unterschiedlich. Nun zeigt sich womöglich der wahre Charakter, im Guten wie im Schlechten: Die einen denken in erster Linie an sich, die anderen vor allem an Andere; und manche trauen sich erst im Angesicht eines möglichen Todes, lange verborgene Seiten auszuleben. Kerstin Polte konfrontiert die Figuren ihrer Geschichte mit einem Ausnahmezustand, der einige über ihre Grenzen treibt: Bei Bauarbeiten im Hamburger

Foto: TamTam Film

Schanzenviertel wird ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. Die Bombe wiegt tausend Pfund und würde weite Teile der „Schanze“ in Schutt und Asche legen. Für das Personal vom Kampfmittelräumdienst (KRD) sind solche Funde in den vor gut achtzig Jahren bevorzugt bombardierten Ballungsräumen nichts Ungewöhnliches: In Deutschland werden im Schnitt pro Jahr rund 5.000 Blindgänger entdeckt. Der Film dokumentiert dies fast schon ironisch mit Kriegsaufnahmen, auf denen jeweils ein Teil der tödlichen Fracht mit einem „x“ markiert ist.

Kombination unglücklicher Umstände

In diesem Fall kommt es jedoch zu einer Kombination unglücklicher Umstände, die eine Kettenreaktion auslösen könnten: KRD-Mitarbeiter Otto Bismarck (Bernhard Schütz) hat soeben erfahren, dass seine Prostata von Krebs befallen ist. Die Diagnose wirft ihn derart aus der Spur, dass er das Geständnis seiner Frau (Claudia Michelsen), eine Affäre zu haben, kaum zur Kenntnis nimmt. Weil Otto unpässlich ist, soll eine Kollegin die Leitung des Teams übernehmen. Hätte die Bombe einen Aufprallzünder, wäre die Entschärfung zwar keine reine Routine, aber auch keine unlösbare Herausforderung. Diese jedoch hat einen Langzeitzünder, sie kann bereits bei der kleinsten Erschütterung explodieren; und der Untergrund ist äußerst instabil.  Angesichts der heiklen Aufgabe wird Lane Petersen (Anne Ratte-Polle), ohnehin psychisch labil, prompt von einer Panikattacke befallen. Weil ein Unglück selten allein kommt, droht zu allem Überfluss auch noch ein Unwetter.

Aus diesem Stoff hätte gut und gern ein Thriller werden können, aber Polte (Buch und Regie) hatte andere Pläne. Ihr Interesse gilt weniger den Rahmenbedingungen, sondern der Reaktion der Menschen: Die einen wachsen über sich hinaus, die anderen werden ganz klein; die einen flüchten, die anderen finden sich selbst. Am berührendsten sind die Momente mit Otto, der durch die Bekanntschaft mit dem Travestiekünstler Viktor (Karl Markovics) eine bislang unbekannte oder verdrängte Facette seiner Persönlichkeit entdeckt.

Weil es keine zentrale Figur gibt und der Film stattdessen mal diese, mal jenen begleitet, ist „Blindgänger“ fast zwangsläufig episodisch und etwas unstrukturiert, selbst wenn sich einige der Lebenswege auf zum Teil liebevoll eingefädelte Weise kreuzen. Andererseits wirkt der insgesamt sehr ruhig gestaltete Film dank der ständigen Szenenwechsel zumindest inhaltlich dynamisch, zumal Polte auf diese Weise viele kleine Geschichten erzählen kann: von Einsamkeit, aber auch von Freundschaft und Liebe. In der Wohnung ihres Nachbarn Viktor stößt Lanes betagte Mutter Margit (Barbara Nüsse), die als Kind den Bombenhagel auf Hamburg erlebt hat, auf einen versteckten Afghanen, der abgeschoben werden soll. Die Sirenen lösen nahezu identische Erinnerungen aus, allerdings mit einem Unterschied: Margit hört die Explosionen, Junis (Ivar Wafaei) sieht sie. Die Szene, in der die alte Frau und der junge Mann ihre Ängste einfach wegtanzen, gehört zu den schönsten des Films. Und noch ein Paar findet zueinander: Psychologin Ava Shabani (Haley Louise Jones) stellt quasi auf den ersten Blick fest, dass Lane nicht einsatzfähig ist. Die Entschärfung duldet jedoch keinerlei Aufschub, zumal es für Hamburg eine Tornadowarnung gibt. Wie die beiden Frauen zueinander finden und die eine der anderen Kraft gibt, ist ebenfalls mit viel Empathie geschildert.

Sehenswert ist „Blindgänger“ auch wegen der sorgfältigen Bildgestaltung. Die Panoramabilder lassen die Stadt grau und öde wirken; erst recht, als die Straßen nach der Evakuierung des Viertels auch noch menschenleer sind. Dank der durch feinen Dunst in der Luft betonten Lichtarbeit (Kamera: Katharina Bühler) ist es drinnen umso heimeliger. Gerade die Wohnungen von Margit und Viktor sind mit ihrem über Jahrzehnte angesammelten Krimskrams Refugien der Behaglichkeit. Kein Wunder, dass die alte Frau ihr Heim nicht verlassen will; und sie ist keineswegs die einzige. Die Polizei hat in solchen Situationen allerdings das Recht, Menschen auch gegen deren Willen zu retten, was zu weiteren Dramen führt.


„Blindgänger“. D 2024. Buch und Regie: Kerstin Polte. Kinostart: 29. Mai

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