„Rote Kapelle“ war der Sammelbegriff, unter dem die Geheime Staatspolizei und die Wehrmacht jene Gegner des Nazi-Regimes zusammenfasste, die während der Kriegsjahre per Funk Nachrichten an die Sowjetunion übermittelten. Es gab im Wesentlichen zwei Gruppen dieser Art, die aber unabhängig voneinander operierten. Ihre Geschichten sind bereits verfilmt worden, doch erst der Dokumentarfilm von Carl-Ludwig Rettinger setzt ihrem Widerstand ein angemessenes Denkmal.
Das kollektive Gedächtnis erinnert sich auch dank diverser Spielfilme vor allem an Claus Schenk Graf von Stauffenberg sowie die Geschwister Scholl und ihre „Weiße Rose“. Zwar gab es auch szenische Produktionen über die „Roten Kapellen“, aber die entsprechenden Produktionen liegen lange zurück: Der DEFA-Film „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“ (1970) würdigt den Berliner Widerstand rund um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, die das System von innen unterwanderten, der eine als Offizier im Reichsluftfahrtministerium, der andere als Regierungsrat im Wirtschaftsministerium. Die Serie „Die rote Kapelle“ (1972, WDR) wiederum erzählt die Geschichte des Kommunisten Leopold Trepper, der in Belgien und Frankreich einen Spionagering aufgebaut hat.
Mit seinem Dokumentarfilm führt Rettinger (Buch, Regie und Produktion) die Arbeit der beiden Gruppen nun erstmals zusammen, wobei „Dokumentarfilm“ als Genrebegriff nicht ganz korrekt ist: Der Film orientiert sich zwar ähnlich wie schon Rettingers sehenswertes Hybridwerk „Die Gentlemen baten zur Kasse“ (2013) über den legendären Postraub im August 1963 am Muster des Dokudramas, doch anstelle von neu gedrehten Spielszenen verwendet er Ausschnitte aus dem DEFA-Film und der WDR-Serie (damals hat er sich beim TV-Straßenfeger „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ aus dem Jahr 1966 bedient). Das wirkt in gewisser Weise sogar authentischer, schließlich sind die Produktionen fünfzig Jahre alt. Darüber hinaus hat Rettinger, der für die Dokuserien „Vier Wochen ohne Fernsehen“ (1976) und „Abnehmen in Essen“ (2000) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, die Gelegenheit genutzt, um einige der damaligen Fehler zu korrigieren.
Spätestens in der zweiten Hälfte ist der Film spannend wie ein Spionage-Thriller, denn als die Wehrmacht den Gruppen auf die Spur kommt, beginnt ein lebensgefährliches Katz-und-Maus-Spiel. Historiker nehmen eine geschichtliche Einordnung der Ereignisse vor, aber der weitaus größere Reiz liegt in den Aussagen der Nachkommen, die zum Teil an den Originalschauplätzen auftreten. Besonders berührend sind die Ausführungen von Hans Coppi, der Rettinger auch als Fachberater unterstützt hat: Seine Eltern gehörten zur Berliner Gruppe. Beide sind 1942 verhaftet und wenige Monate nach Coppis Geburt im Gefängnis ermordet worden.
Diesen grausigen Teil der Geschichte, die Folterungen und Hinrichtungen, hat die westdeutsche Produktion aus den Siebzigern geflissentlich ausgespart. Andere Teile der Geschichtsschreibung sind sogar verfälscht worden: Im Osten wurden die Mitglieder der Berliner Gruppe als Kundschafter der Sowjetunion verehrt, dabei waren sie in erster Linie Kriegsgegner. Dem Andenken der Männer und Frauen in Brüssel und Paris wurde allerdings ungleich übler mitgespielt: Während führende Persönlichkeiten aus SS und Gestapo auch in der BRD Karriere machten und unter dem Schutz der Amerikaner den Bundesnachrichtendienst gründeten, galten die Widerständler als Vaterlandsverräter. Dass Rettinger damit endgültig aufräumt und vor allem auch den rund hundert hingerichteten Männern und Frauen in der zweiten und dritten Reihe das Denkmal errichtet, dass ihnen schon lange gebührt, ist neben aller handwerklichen Qualität das größte Verdienst des Films.
„Die rote Kapelle“ (Deutschland, Belgien, Israel 2020). Buch und Regie: Carl-Ludwig Rettinger. Kinostart: 26. August.