75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee gibt es nicht mehr viele, die das namenlose Grauen überlebt haben. Dass ein Film wie „Ein Tag in Auschwitz“ heute womöglich notwendiger denn je ist, hat jedoch andere Gründe: Wer nach dieser Dokumentation noch immer applaudiert, wenn Politiker, die mit dem Faschismus liebäugeln, die Zeit des Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte bezeichnen, dem ist vermutlich nicht zu helfen.
Die Feststellung, jede Dokumentation über den Holocaust sei wichtig, sagt natürlich nichts über die Qualität eines Films aus; schließlich gibt es Hunderte, wenn nicht gar Tausende Produktionen dieser Art. Überschneidungen lassen sich kaum vermeiden; Fakten sind Fakten, und das zeitgenössische Material ist endlich. Trotzdem ist es Winfried Laasch und Friedrich Scherer gelungen, einen besonderen Weg zu finden. Sie betten ihre Erzählung in eine Dramaturgie, die der eines Spielfilms ähnelt, und kondensieren die Geschichte des Vernichtungslagers zu einem typischen Tag: Ende Mai 1944 ist die junge Ungarin Irene mit ihren Eltern und fünf Geschwistern in Auschwitz angekommen. Mit Hilfe von Fotografien rekonstruieren die Autoren den industriellen Ablauf der perfekten Tötungsmaschinerie. Die Aufnahmen bilden das dramaturgische Rückgrat des Films. Die Bilder stammen aus einem privaten Album des Lagerfotografen, es befindet sich heute in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem.
Formal orientiert sich der Film am üblichen Muster, nach dem die meisten zeitgeschichtlichen Dokumentationen funktionieren: Aussagen von Zeitzeugen werden durch dokumentarische Aufnahmen illustriert, ein Historiker sorgt für Hintergrundinformationen und sortiert die Fakten. Gerade bei der Auswahl der Zeitzeugen haben Laasch und Scherer ein gutes Gespür bewiesen. Irene Weiss, eine würdevolle alte Dame von mittlerweile 89 Jahren, trägt ihren Bericht nüchtern vor, fast emotionslos. Ihre Mutter und ihre kleinen Geschwister wurden in jenem Mai 1944 „aussortiert“. Was aus ihnen wurde, schildert der zweite Zeitzeuge, ein Jude aus Griechenland: Dario Gabbai, heute 97, gehörte zum „Sonderkommando“, er war einer jener Häftlinge, die die Opfer aus den Gaskammern zu den Öfen transportierten. Er rechtfertigt seine Kollaboration mit einem nachvollziehbaren Motiv: irgendwie überleben, um später erzählen zu können, was sich hier zugetragen hat. Eine dritte Ebene gilt einem polnischen Juden, dem die Flucht gelungen ist.
Jenseits der Informationsebene beeindruckt der Film auch durch technische Details. Anhand der auf den Fotos abgebildeten Schatten lässt sich festlegen, zu welcher Stunde die Aufnahmen entstanden sind; auf diese Weise ist eine exakte zeitliche Rekonstruktion des Ablaufs möglich. Dank der Digitalisierung nimmt die Kamera ein Bild als Ausgangspunkt und fliegt durch die Szenerie, bis die Einstellung schließlich gefriert und zum nächsten Foto wird.
Abgerundet wird die vorzügliche Gesamtleistung durch einen sachlichen und vom Schauspieler Philipp Moog frei von jedem unnötigen Pathos vorgetragenen Kommentar. Die Rekonstruktionen sind ähnlich zurückhaltend und dienen tatsächlich nur der Illustrierung. Auf eine Inszenierung der Ereignisse in den Gaskammern haben Laasch und Scherer selbstverständlich verzichtet; die Bilder, die Gabbais Schilderungen im Kopf produzieren, genügen vollauf.
Das ZDF zeigt den Film am 28. Januar um 20.15 Uhr. In der Mediathek steht die Dokumentation bereits am Vortag ab 10 Uhr.
https://www.zdf.de/dokumentation/dokumentation-sonstige/ein-tag-in-auschwitz-108.html