Ein braver Familienvater wähnt sich auf einer heiligen Mission und tötet Sexarbeiterinnen, die in der heiligen Stadt Maschhad am Straßenrand auf Kunden warten: Daraus hätte leicht ein reißerischer Thriller werden können. Davon ist „Holy Spider“ allerdings weit entfernt, selbst wenn Ali Abbasi seinen Film mit der Aufnahme einer nackten Frau beginnt und die Morde sehr explizit zeigt; der Film ist völlig zu Recht erst ab 16 Jahren freigegeben.
Trotzdem klingt der Stoff erst mal nicht nach einem Werk, das in vier Kategorien für den Europäischen Filmpreis nominiert war und als aussichtsreicher dänischer Kandidat für einen „Oscar“ als bester internationaler Film gilt. Das Drehbuch basiert auf Ereignissen, die sich vor gut zwanzig Jahren im Iran zugetragen haben. Der Mörder war ein bis dahin unbescholtener Zimmermann. Sein „Dschihad gegen die Sittenlosigkeit“ erinnert an den Monolog, den Drehbuchautor Paul Schrader einst der Titelfigur aus Martin Scorses Klassiker „Taxi Driver“ (1976) in den Mund gelegt hat: „Wenn es dunkel wird, taucht das Gesindel auf. Huren, Betrüger, Amateurnutten, Sodomiten, Trinen, Schwuchteln, Drogensüchtige, Fixer, kaputte Syphkranke. Ich hoffe, eines Tages wird ein großer Regen diesen ganzen Abschaum von der Straße spülen.“ Saeed (Mehdi Bajestani) wird von ganz ähnlichen Motiven angetrieben, und das macht den Film zum Sittengemälde: Eine junge Journalistin (Zar Amir Ebrahimi) wundert sich, warum die Polizei den „Spinnenmörder“ immer noch nicht gefasst hat. Also macht sie sich selbst zum Lockvogel und entkommt dem Tod prompt nur um Haaresbreite.
Der Regisseur ist durch den Fantasy-Film „Border“ (2018) international bekannt geworden. Der gebürtige Iraner, der sein Filmhandwerk an der staatlichen Filmschule in Kopenhagen gelernt hat, orientierte sich bei der Inszenierung an der Nüchternheit der dänischen Dogma-Produktionen. „Holy Spider“ entspricht dagegen viel stärker einem international gängigen Stil, selbst wenn Abbasi auf die typischen Spannungsverstärker des Thriller-Genres verzichtet hat. Sein in Jordanien entstandener Film ist über weite Strecken ein Doppelporträt, denn der Mörder und seine Jägerin sind gleichwertige Figuren.
Abbasi betont, „Holy Spider“ sei dennoch kein Film über einen Serienmörder, sondern über eine „Serienmördergesellschaft“. Im Iran gebe es einen tief verwurzelten Hass auf Frauen, der nicht politischen oder religiösen, sondern kulturellen Ursprungs sei. Deshalb sieht er Saeed gleichermaßen als Opfer wie als Täter. Eine weitere Parallele zu Travis Bickle, dem Vietnam-Veteranen aus „Taxi Driver“, ist die Kriegserfahrung: Saeed empfindet sein Dasein als bedeutungslos und wünscht sich daher, er wäre als junger Mann im Krieg gegen den Irak gefallen, dann würde man ihn heute als Märtyrer verehren. Natürlich spielt auch der Schauplatz eine Rolle: Maschhad ist die spirituelle Hauptstadt Irans, jährlich pilgern Millionen von Moslems zum heiligen Schrein von Imam Reza. Viele Touristen sind selbst in einem religiösen Land ein Magnet für Menschen, die ihren Lebensunterhalt im Zwielicht verdienen. Das erklärt, warum Saeed nach seiner Verhaftung von den konservativen Medien als Volksheld gefeiert wurde. Abbasi betrachtet seinen Film daher als „dreckigen Spiegel“, den er seinen Landsleuten vorhalten möchte. In seiner ehemaligen Heimat wird „Holy Spoider“ allerdings kaum in die Kinos kommen, und das nicht nur wegen der offenkundig kritischen Haltung: Nacktheit, Prostitution und Drogensucht sind in iranischen Medien verpönt.
„Holy Spider“ kommt am 12. Januar in die deutschen Kinos.