Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen wurde durch seine Arbeit zur Skandalforschung bekannt. In seinem Buch „Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“ geht er nun der Frage nach, wie es in Zeiten von Desinformation und Dauerablenkung gelingen kann, gemeinsam eine Welt zu erkunden, „die überhaupt erst im Miteinander-Reden und Einander-Zuhören entsteht.“ Im Interview beschreibt er unter anderem, welche Folgen es hat, wenn Plattformen wie X und Facebook den Faktencheck abschaffen.
Herr Pörksen, warum haben so viele Menschen verlernt, zuzuhören und Zwischentöne wahrzunehmen?
Bernhard Pörksen: Die aktuell erlebbare Zuhörfeindlichkeit hat ganz unterschiedliche Ursachen. Zum einen gibt es einen prinzipiellen Grund: Der Mensch ist ein bestätigungssüchtiges Wesen, eingehüllt in den Kokon seiner Urteile und Vorurteile. Zum anderen ist gerade die Welt der sozialen Netzwerke eine extrem laute Welt. Lernende Algorithmen befördern das Erregungsspektakel, die Emotionalisierung, die Überhitzung des Kommunikationsklimas. Aber Zuhören ist heutzutage auch deshalb schwer, weil wir medial ständig mit Negativthemen konfrontiert werden. Studien zeigen, dass sich gerade junge Menschen deshalb von den Nachrichtenströmen abkoppeln und sich abschotten.
Welche Folgen hat es für die persönliche Kommunikation, wenn auf X und Facebook jede Form von Faktencheck abgeschafft wird?
Das wird die Diskursformen in sozialen Netzwerken nochmals verändern und zu noch mehr Dramatisierung, Emotionalisierung und Übertreibungen führen. Formulierungen mit empörenden, aufpeitschenden Inhalten bringen auf Facebook eindeutig mehr „Likes“, auf X steigt die „Repost“-Rate. Wir erleben gerade einen fundamentalen Wechsel: Aus dem einst von Jürgen Habermas formulierten Ideal des „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ ist etwas geworden, das der Netztheoretiker Michael Seemann den „zwanglosen Zwang dominanter Standards“ nennt. Diese Standards sorgen für das Spektakel, die Überhitzung, die Polarisierung und ein von Zuspitzungen geprägtes Kommunikationsklima.
Balance zwischen zwei Extremen
Wie kann es gelingen, sich davon nicht überrollen zu lassen?
Das ist in der Tat nicht leicht. Nötig ist die Balance zwischen zwei Extremen: Auf der einen Seite die selbstfürsorgliche Abgrenzung, die aber nicht zur Heiligsprechung des eigenen, persönlich-privaten Seelenfriedens missraten darf. Auf der anderen Seite das Bemühen um eine engagierte Weltzuwendung, die aber nicht zur totalen Selbstöffnung eskalieren sollte, denn sonst drohen Dauerverstörung, Ermüdung, Deprimiertheit. Diesen Balanceakt gilt es unter den gegenwärtigen Medienbedingungen und der neuen Zudringlichkeit der Nachrichten, die uns überall, jederzeit und in einer nie dagewesenen unmittelbaren Direktheit erreichen, immer wieder neu zu bewältigen.
Der Diskurs in den digitalen Netzwerken wird von Populisten und Trollen dominiert. Lässt sich das überhaupt ändern, und wenn ja wie?
Ich sehe drei Ansätze zur Verbesserung des Kommunikationsklimas. Erstens: Wir brauchen eine andere normative Entschiedenheit in der Medienbildung. Es ist geradezu grotesk, wie stiefmütterlich und nachlässig dieses Thema politisch behandelt wird. In der Vernetzung der Welt liegt ein gesellschaftspolitisch noch nicht ausreichend verstandener Bildungsauftrag. Wir brauchen schon lange ein eigenes Schulfach, in dem Medienmündigkeit auf der Höhe der digitalen Zeit trainiert wird. Zweitens braucht es nicht nur eine Bildungsanstrengung, sondern auch eine Diskursanstrengung.
Das Kommunikationsklima wird idealerweise von uns allen mitgeprägt, aber aktuell geben die Lauten, die Wütenden, die politisch Extremen und die Desinformationsspezialisten den Ton an. Es ist ein Gebot der Stunde, hier dagegenzuhalten und eine andere Form der Dialogfähigkeit vorzuleben, konkret und jeden Tag. Drittens sind Regulierungsanstrengungen nötig. Hier geht die EU mit dem „Digital Service Act“ und anderen Initiativen mit gutem Beispiel voran. Aber auch das ist ein Balanceakt: Desinformation muss bekämpft werden, doch gleichzeitig gilt es, die Ideale von Kommunikationsfreiheit und Mündigkeit zu bewahren, denn dies sind die Ideale, die einer Demokratie überhaupt erst ihre Würde und ihren Geschmack geben.
Die Rolle der Qualitätsmedien
Welche Aufgabe kommt in diesem Konglomerat den Qualitätsmedien zu?
Der Journalismus hat erkennbar an Deutungshoheit verloren. Er vermag längst nicht mehr als Gatekeeper am Tor zur öffentlichen Welt zu entscheiden, was als interessant und relevant gelten kann. Wir brauchen daher ein Bemühen um eine andere Intensität des Dialogs zwischen der vierten Gewalt des klassischen Journalismus‘ und der fünften Gewalt der vernetzten Vielen. Idealerweise handelt der Journalismus in der gegenwärtigen Situation, in der viel zu wenige Menschen wirklich wissen, wie in den Medien gearbeitet wird, nach einem Imperativ der Dialogorientierung und der Transparenz. Diesen Imperativ habe ich so formuliert: „Gib deinem Publikum jede nur denkbare Möglichkeit, die Qualität der von dir vermittelten Information einzuschätzen!“
Wie sähe das in der Praxis aus?
Es geht nicht mehr nur darum, Informationen auszuwählen und zu gewichten, sondern ergänzend auch „Gatereporting“ zu betreiben, also die Standpunkte und Maßstäbe immer wieder neu zu erklären. So könnte der seriöse Journalismus einen Beitrag zur Medienmündigkeit in der Breite der Gesellschaft leisten: auf dem Weg in eine redaktionelle Gesellschaft der Zukunft, in der die Maximen und Ideale des klassischen Journalismus – Wahrheitsorientierung, Quellenanalyse, die andere Seite hören, Orientierung an Relevanz und Proportionalität – zu einem Element der Allgemeinbildung werden.
Standards, Routinen und Rituale hinterfragen
Sie befassen sich in Ihrem Buch ausführlich mit der Journalismuskritik des Wissenschaftsjournalisten Andrew Revkin. Er bemängelt, dass die Medien wissenschaftlich belegte Fakten viel zu oft als fraglich darstellen und Nebensächlichkeiten viel zu viel Aufmerksamkeit schenken. Brauchen wir also einen neuen Journalismus?
Nein, aber wir brauchen ein anderes Maß an Dialogorientierung und Transparenz im Journalismus. Es ist nötig, die eigenen Standards, Routinen und Rituale zu überdenken. Wir leben in einem Zeitalter einer gigantischen Krisenverdichtung. Der Aufstieg des Populismus und die Erosion von Demokratien fordern den Journalismus auf eine untergründige Weise heraus. Die permanente Orientierung am Konflikt, die Lust am Zündeln, die Unart, auf das eine Interviewzitat zu lauern, das man umgehend an die Nachrichtenagenturen weitergeben kann: Das sind Vorgehensweisen, die man branchenintern infrage stellen sollte. Wir brauchen einen Journalismus, der auf unabhängige und kritische Weise Gesellschaftsbeobachtung betreibt, aber nicht auch noch selbst die Empörungsdynamik befeuert und damit das große Rauschen verstärkt.
Aber auch seriöse Medien sind den ökonomischen Mechanismen des Marktes sowie der Tyrannei der Aktualität unterworfen.
Wir erleben derzeit eine elementare Änderung: Die Anzeigenmärkte brechen weg, Abos werden zur entscheidenden Geldquelle. Das hat zur Folge, dass Leserinteressen einen ganz anderen Einfluss bekommen, und führt zu einer Renaissance des Gesinnungsjournalismus‘, der in medialen Selbstbestätigungsmilieus gedeiht. Hier heißt es für die seriöse Publizistik Distanz zu wahren, sich nicht permanent opportunistisch und aus rein ökonomischen Erwägungen an die Publikumsinteressen anzuschmiegen. Guter Journalismus ist am Publikum orientiert, redet ihm aber nicht nach dem Mund.
Bernhard Pörksen (Jahrgang 1969) ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten und zentralen Themengebieten gehören zum Beispiel der Medienwandel im digitalen Zeitalter, Inszenierungsstile in Politik und Medien sowie die Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten.