Weit entfernt von einer „Zusammenschau“
Das Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft (KMW) der Universität Leipzig steht in unmittelbarer Nachfolge des am 1. November 1916 von Karl Bücher gegründeten „Instituts für Zeitungskunde“. Es war der Start universitärer Forschung zu Massenmedien und -kommunikation in Deutschland. Heute gehört es neben Instituten in Berlin, Mainz und München zu den großen Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen hierzulande. 100 Jahre später trafen sich Medienprofessoren und –experten zu einem wissenschaftlichen Symposium in Leipzig, in dem sie die wechselvolle Geschichte des heutigen Instituts für KMW beleuchteten.
„Angesichts der komplizierten Geschichte des Instituts wollen wir heute keine Festreden halten, sondern uns wissenschaftlich damit beschäftigen und die eigene Rolle hinterfragen“, hatte schon bei der Begrüßung Patrick Merziger, Juniorprofessor für Kommunikationsgeschichte, betont. Eine gute Zielsetzung, denn die 100jährige Historie ist insofern einzigartig, als sie Forschung und Lehre in einer Monarchie, in der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Diktatur, im Realsozialismus und schließlich in der bundesdeutschen Demokratie einschließt. Versuche, politischen Einfluss zu nehmen und die Medien zu instrumentalisieren, gab es in den wechselvollen Zeiten immer wieder und auch heute können sie nicht ausgeschlossen werden. Das, was im Symposium vorgetragen wurde, diente jedoch bestenfalls dazu, schlaglichtartig das Wirken einzelner Personen oder Tendenzen in der Entwicklung der Kommunikationswissenschaft aufscheinen zu lassen. Die chronologisch dargebotenen Vorträge lehnten sich thematisch und in den historischen Einordnung weitgehend an das an, was in dem kürzlich erschienenen Sammelband „Die Entdeckung der Kommunikationswissenschaft“ als „Zusammenschau“ zu „100 Jahre kommunikationswissenschaftliche Fachtradition in Leipzig“ zum Teil von den gleichen Autoren publiziert wurde (eine Rezension auf M Online folgt in Kürze). Auf der Veranstaltung erhielten Zuhörer_innen bestenfalls einen groben Überblick.
Der Beginn: Unabhängigkeit und Wahrheitstreue
Prof. Dr. Arnulf Kutsch, ehemaliger Lehrstuhlinhaber am KMW Leipzig, porträtierte den „Urvater“ des Instituts, Karl Bücher (1847-1930), als zentralen Akteur und Initiator. Bücher arbeitete Jahrzehnte daran, die Professionalisierung von Journalist_innen voranzutreiben. Eigentlich Gymnasiallehrer und später Nationalökonom, forschte und veröffentlichte er regelmäßig zu historischen und sozialen Themen, schrieb später für die „Frankfurter Zeitung“ und kam schließlich 1892 an die Universität Leipzig, wo er 1903 Rektor wurde. Bücher hatte die Rolle der Presse als Kulturfaktor erkannt und wünschte sich unabhängige Zeitungen mit selbstbewussten, prinzipienfesten Journalisten. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich in Paris und Zürich Journalistenschulen gegründet; Joseph Pulitzers Gründung einer Stiftung, die einen Preis und eine Journalistenschule finanzieren sollte, war 1904 eine öffentliche Sensation. Die Zeit für die akademische Aufwertung des Berufs war reif. Karl Bücher konstatierte zu Beginn des Ersten Weltkrieges: „Die Presse hat die Anforderungen des Krieges nicht bestanden“. Es bedürfe der Erziehung eines unabhängigen Journalistenstands, der sich der Wahrheit und dem Gemeinwohl verpflichtet sehe. Mitten im Krieg – am 1. November 1916 – nahm das neue „Institut für Zeitungskunde“ offiziell den Studienbetrieb auf – mit neun Studenten, darunter immerhin drei Frauen. Die „Zeitungskunde“, wie sie von Bücher vorgezeichnet worden war, etablierte sich danach auch an anderen deutsche Universitäten. 1921 wurde sie an der Alma Mater Lipsiensis als Haupt- und Promotionsfach in der Philosophischen Fakultät anerkannt.
Weimarer Jahre: Wissenschaftliche Selbstständigkeit
Dr. Erik Koenen, ehemaliger Student und wissenschaftlicher Mitarbeiter am KMW in Leipzig, zeigte die Verdienste von Büchers Nachfolger, Erich Everth (1878-1934), in der Zeit der Weimarer Republik auf. 1926 hatte der erste ordentliche Professor für Zeitungskunde die Leitung des Instituts übernommen. Sein Augenmerk galt dabei vor allem dem Ziel, der Zeitungswissenschaft die Anerkennung als selbständige wissenschaftliche Disziplin zu verschaffen. Die Zeitungen, so meinte der erfahrene Journalist, sollten nicht isoliert von gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einflüssen untersucht werden. Denn die Presse sei „mehr als nur ein gewöhnliches Erwerbsunternehmen“, sie müsse „als ein wenigstens teilweise geistiger Prozess und als Geistesgebilde verstanden werden“. Everth unterstrich die soziale Funktion des zwischen der Welt und dem Einzelnen vermittelnden Journalisten. Deshalb müssten ihm Kenntnisse über das Zeitungswesen vermittelt werden, die zur richtigen Auffassung und Beurteilung der eigenen Arbeit anleiten.
Mit 128 Studierenden verfügte Leipzig im Wintersemester 1932/33 nach der Berliner Universität über die zweitgrößte zeitungskundliche Studienrichtung Deutschlands. Everth war der einzige Zeitungswissenschaftler, der sich nach Hitlers Machtergreifung öffentlich gegen die von den Nazis verfügten Presseverbote aussprach. Sein Plädoyer für die Erhaltung der Pressefreiheit in einem Vortrag am 19. Februar 1933 musste er mit dem Verlust seines Lehrstuhls bezahlen (auch wenn er offiziell aus gesundheitlichen Gründen emeritiert wurde).
NS-Zeit: Erfüllungsgehilfe des Regimes
Stefanie Averbeck-Lietz zeichnete den Weg des Instituts in der NS-Zeit nach. 1934 hatte der Berliner Zeitungswissenschaftler Hans Amandus Münster (1901-1963) den Lehrstuhl übernommen. Seiner Auffassung nach hatten Journalist_innen das totalitäre Regime zu stabilisieren und wurden somit zum „Hilfsmann des Politikers“. Eine dunkle Zeit begann: Jüdische Studierende wurden nicht mehr zugelassen, Dissertationsthemen kontrolliert, der „reichseinheitliche Lehrplan“ bis in die von Deutschland besetzten Länder ausgedehnt. Spitzeleien durch Journalisten und direkte „Dienstleistungen“ an den faschistischen Staat waren an der Tagesordnung. Münster bezeichnete den Leser als „Volksgenossen“ – alles Streben war darauf ausgerichtet, im Sinne des NS-Regimes maximalen Einfluss auf die Bevölkerung auszuüben.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde Münster in der Bundesrepublik Dozent für Werbung und Marketing, Zeitschriften-Herausgeber der „Verlags-Praxis“ und ab 1956 der „Publizistik“. Dass er noch wenige Jahre zuvor Publizistik mit Propaganda gleichgesetzt hatte, störte offenbar niemanden.
DDR-Sozialismus: Lehre statt Forschung
Aus den wissenschaftlichen und materiellen Trümmern, die der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, versuchte man am Institut für Zeitungswissenschaften in Leipzig Zukunft zu gewinnen und richtete sich bald nach sozialistischen Grundsätzen aus. Bis zum Ende der DDR war die Universität Leipzig, 1953 bis 1991 „Karl-Marx-Universität“, dann die einzige im Osten Deutschlands mit einer akademischen Journalistenausbildung. Schnell hatte die 1954 konstituierte Journalistik-Fakultät den Beinamen „Rotes Kloster“. Er bezeichnete die Ausrichtung durchaus zutreffend, denn der Neuanfang des Fachs hatte zwei institutionelle Wurzeln: Das Institut für Publizistik an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und das gleichnamige Institut der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, das die marxistisch-leninistische Grundausbildung zu leisten hatte. Micheal Meyen, der selbst 1988 ein Studium an der damaligen Sektion Journalistik begonnen und alle Umbrüche miterlebt hatte, untersuchte die politische und wissenschaftliche Entwicklung anhand der Professoren, die in der DDR-Zeit am Institut tätig waren, in einer „Kollektivbiografie“. Er klassifizierte sie in „Gründer, Seiteneinsteiger und Eigengewächse“. Letztere „erfanden“ nach Auffassung Meyens die typische DDR-Journalistik, die Forschung vernachlässigte und sich stattdessen auf die Lehre von Genres, Methodik und Stilistik konzentriert habe. Ergebnisse von empirischen Forschungen landeten im Panzerschrank, internationaler Austausch habe fast völlig gefehlt.
In der anschließenden Diskussion widersprachen einige ehemalige Professoren den Einschätzungen Meyens bzw. rechtfertigten ihr Arrangement mit dem Staat. „Es gibt noch keine Geschichte der Journalistenausbildung in der DDR – es würde sich lohnen, sie zu schreiben“, betonte Meyen, heute Professor für Kommunikationswissenschaft in München, zum Schluss. Eine Anregung für die zahlreichen Studierenden, die das Symposium besuchten?
Nachbemerkung: Nach der Wiedervereinigung wurde am 20. Februar 1991 Karl Friedrich Reimers (geb. 1935), damals Ordinarius für Kommunikations- und Medienwissenschaften in München, als Dekan des Fachbereichs berufen. Reimers und sein Stab hielten den Lehrbetrieb in der Umbruchzeit aufrecht; Studierende gingen sogar in den Hungerstreik, um gegen die Abwicklung des Instituts zu protestieren. Die Gründungszeremonie für das neue Institut für KMW der Alma Mater Lipsiensis fand am 2. Dezember 1993 statt.
Nachlesen: „Die Entdeckung der Kommunikationswissenschaft. 100 Jahre kommunikationswissenschaftliche Fachtradition in Leipzig (Hrsg. Erik Koenen, Halem Verlag, 2016)