Klarer Blick in die Zukunft

Professor Michael Haller, Universität Leipzig, zeigt Gefahren für den Journalismus auf

Medienmacher werden künftig multimedial arbeiten müssen. Die formale Spezialisierung zwischen den Textsorten schwindet zugunsten eines Allround-Journalismus, die thematische Spezialisierung dagegen schreitet voran. Dies sind Ergebnisse der bislang umfangreichsten Online-Befragung unter Deutschlands Journalisten, durchgeführt vom Leipziger Institut für praktische Jour­nalismusforschung. Institutsleiter Michael Haller gab M über weitere Erkenn­tnisse der Studie, die im kommenden Sommer in Buchform erscheinen soll, Auskunft.

M | In Ihrer Studie „Die Zukunft des Journalismus“ listen Sie diverse Gefahren für den Journalismus auf? Wer oder was bedroht den deutschen Journalismus?

MICHAEL HALLER | Die Gefahren kommen von verschiedenen Seiten. Eine Gefahr ist eine überstarke Kommerzialisierung der Medienproduktion durch die Medieneigentümer. Früher existierte ein sehr ausgeprägtes publizistisches Selbstverständnis in den Printmedien. Es gab bis in die siebziger Jahre so manchen Verleger, der mehr an der publizistischen Qualität und der journalistischen Leistung interessiert war als an der Höhe des Gewinns. Wenn dann das Ganze auch finanziell noch gut ging – umso besser. Das berühmte Beispiel ist Bucerius, der zwei Jahrzehnte die defizitäre Zeit aus den Gewinnen, die er als Miteigentümer des Stern erzielte, finanziert hat. Spätestens seit dem Zusammenbruch des klassischen Werbemarktes dominiert in vielen Verlagshäusern ein ausgeprägtes Renditedenken. Die journalistische Leis­tung wird als eine Zusatzleistung verstanden, die man braucht, um den Werbeträger zu vermarkten. Viele Verlagsleitungen bestehen heute aus Managern, die nicht selber Verleger sind, sondern vorgestern bei Unilever waren und übermorgen bei Aldi als Geschäftsführer tätig werden.

M | Welche Folgen hat diese Kommerzialisierung für die Zeitungsproduktion?

HALLER | In diesen Zusammenhang gehören das Outsourcing, die Verschlankung der Produktion und das Ausdünnen insbesondere der Lokalredaktionen. Und damit sind wir beim zweiten großen Problem, der wachsenden Abhängigkeit der personell ausgedünnten Redaktionen vom Input. Vor allem die PR-basierten Inputs haben es dadurch leichter, ungefiltert durch die Redaktionen ans Licht der Öffentlichkeit zu kommen. Ein Teufelskreis, denn dadurch haben es gerade im lokalen und regionalen Raum viele Dienstleister und Unternehmen gar nicht mehr nötig, eine Anzeige zu schalten – sie lancieren ihre Werbebotschaft ja ohnehin in der Zeitung. Es ist also auch töricht, die Redaktion so auszudünnen, dass sie deprofessionalisiert wird.

M | Die Kommerzialisierung tangiert auch die Journalistenausbildung …

HALLER | Derzeit wird die Ausbildung des Nachwuchses stark vernachlässigt. Vor allem in den Fachzeitschriftenverlagen dient der Nachwuchs – die Praktikanten und Volontäre – in erster Linie als billige Arbeitskraft. Wenn die ihre Ausbildung abgeschlossen haben und eigentlich als Redakteurinnen und Redakteure einen manteltariflich abgesicherten Vertrag bekommen müssten, dann kann man sie „leider“ nicht übernehmen. So wird auf der einen Seite Arbeitslosigkeit produziert, auf der anderen Seite holt man sich wieder neue Volontäre und Praktikanten. Mit Journalismus hat das nur noch bedingt etwas zu tun. Tendenz auch hier: eine fortschreitende Deprofessionalisierung.

M | Eine fatale Tendenz angesichts der neuen Herausforderungen, die auf die Journalisten in den nächsten Jahren zukommen. Worauf müssen Kommunikationsprofis sich einstellen?

HALLER | Die Zeit des monomedialen Journalismus geht zu Ende. Der Journalist der Zukunft wird ein Multitalent sein. Er wird sein journalistisches Handwerk cross­over einsetzen. Der Journalist muss auf mehreren Klaviaturen spielen, sich bei jedem beruflichen Termin fragen: Mach ich daraus einen Hörbeitrag, einen Videobeitrag, vorab eine schnelle, kurze Nachricht online, und danach vielleicht noch ein flankierendes, hintergründiges oder erzähljournalistisches Stück für ein Printmedium.

M | Gesucht wird also die eierlegende Wollmilchsau?

HALLER | Ja, wobei die eierlegende Wollmilchsau sich nur auf die journalistischen Vermittlungstechniken bezieht. In Bezug auf die Sachgebiete verhält es sich genau umgekehrt. Wir unterscheiden zwischen Vermittlungskompetenz und Sachkom­petenz. Für die Vermittlungsleistung trifft dieses Bild zu. Aber in der Sachkompetenz, da wird in vielen journalistischen Bereichen eher mehr Professionalität, mehr Know How verlangt werden, als das heute der Fall ist.

M | Hat das mit der immer stärkeren Aus­differenzierung des Publikums zu tun?

HALLER | Das hat viele Gründe. Einer besteht in der Gefahr, dass man sich vom Internet überholt sieht. Tatsächlich sind die Publika nicht mehr mit einem einzigen journalistischen Medium zufrieden, wie noch vor 15, 20 Jahren, auch nicht mehr mit zwei oder drei. Die unter 30jährigen rezipieren heute im Mittel knapp fünf Medien täglich. Darunter sind drei, die journalistische Produkte anbieten, und nicht nur irgendwas Fiktionales oder Entertainiges. Und das wird fortschreiten. Daher muss auch der Printjournalismus vermehrt Nachfragen des Publikums nach optimaler Orientierung auf einzelnen Sachgebieten befriedigen.

M | Eine Fähigkeit, die früher die Spezialität von Wissenschaftsjournalisten war …

HALLER | Richtig. Diese Transferleistung aus einem Fachgebiet in die Alltagswelt der Menschen, dieses Übersetzen-können gehört künftig auch zum Qualifikationsprofil von Journalisten, die sich mit Wirtschaft oder Kultur oder mit anderen Ressorts befassen. Den klassischen Ressortjournalismus wird es so nicht mehr geben.

M | Bei einigen Printmedien wird seit kurzem mit Techniken wie Readerscan gemessen, für welche Inhalte sich Leser vor allem interessieren. Werden auf diese Weise die Journalisten von Printmedien nicht einer Art Quotendruck unterworfen?

HALLER | Unser Institut für Praktische Journalismusforschung an der Uni Leipzig arbeitet mit ReaderScan-Entwickler Carlo Imboden zusammen. Wir setzen außerdem so genannte Eye-track-Methoden, also Blickverlaufsmessungen ein. Damit kann man zeilengenau den Lesevorgang erkennen. Es wird klar, wo die Leser aus einem Text aussteigen beziehungsweise gar nicht anfangen zu lesen. Das eine wie das andere sind ausgezeichnete Diagnose­instrumente, um die blattmacherischen Schwächen sehr genau zu erkennen. Der Vergleich mit der Einschaltquote trifft nicht. Es ist ein Diagnoseinstrument, um die Nähe des Blattes zu den Bedürfnissen der Leser zu erkennen. Wenn wir das Re­daktionen vorführen, damit man dort erfährt, wie die Leser wirklich mit der Zeitung umgehen, dann reagieren viele Redakteure schockiert: Sie erkennen zum Beispiel, dass sie über viele Stunden mit viel Schweiß eine Zeitungsseite produziert haben, die kein Mensch liest. Die also für den Papierkorb gemacht wurde.

M | Ein Ergebnis mangelnder Kommunikation mit den Lesern?

HALLER | In vielen Redaktionen wird allmählich eingesehen, dass man immer noch die Zeitung für den klassischen Zeitungsleser aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts macht. Den gibt‘s aber nicht mehr. Den gibt es bei den über 60jährigen noch, aber die sterben bekanntlich auch bald aus. Wenn man die Tageszeitung künftig als Medium retten will, muss man schleunigst dazulernen. Also zum Beispiel dialogische Formen entwickeln.

M | Sie weisen auf die wachsende Bedeutung von Verbraucherthemen hin. Was bedeutet diese Orientierung am so genannten Nutz­wertigen für die Zeitung von morgen? Mehr Lebenshilfe, weniger hochgeistiges Feuilleton?

HALLER | Das ist die falsche Alternative. Tatsächlich geht es darum, die Themen, die man auch jetzt schon aufgreift, anders zu behandeln. Wenn Sie das Feuilleton oder den Wirtschaftsteil aufschlagen oder auch den Lokalteil durchgehen, haben Sie überwiegend eine Art Einbahnstraßen-Aussagen-Produktion. Der Journalist übernimmt die Perspektiven des Veranstalters, desjenigen, der die Nachrichten, die Ereignisse produziert hat, und vermittelt das Geschehene aus dessen Sicht an das Pub­likum. In den kommenden zehn Jahren wird es darauf ankommen – und das ­meine ich mit Nutzwertigkeit – dasselbe Thema aus der Sicht des Zielpublikums zu erschließen: Was ist für eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern an dieser Ausstellung interessant? Oder für Rentner? Was müssen die wissen, damit sie mit dem Angebot optimal umgehen können? Die neuen dialogischen Formen müssen von der Fragestellung her nutzwertig angelegt werden, allerdings nicht im Sinne des überkommenen Ratgeber-Journalismus.

M | Welche Zukunft hat der Qualitätsjournalismus vor dem Hintergrund der von ihnen eingangs beschriebenen Gefahren?

HALLER | Im tagesaktuellen Journalismus bedeutet Qualität nicht nur eine Informationsleistung, die bestimmten Standards genügt, also etwa Überprüfungsrecherche und zuverlässiges Selektieren der relevanten News. Es geht auch darum, Hintergrund anzubieten und einen analytischen Zusammenhang herzustellen. Von einem guten, nicht mainstreamigen Journalis­mus erwarten wir, dass er auch Abseitiges aufgreift. Dass er Vorgänge entdeckt, die für die Leser bedeutsam und ­aufschlussreich sind. Einen so definierten Qualitätsjournalismus wird es selbst in der Regionalpresse auch in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren geben. Er wird aber wahrscheinlich mit einer etwas kleineren Auflage auskommen und dafür höhere Copy- und Abopreise nehmen müssen. Man wird sie ihm aber auch zahlen, weil diejenigen, die auf diesen Journalismus zugreifen, die formal besser Gebildeten und in der Arbeitswelt besser Gestellten sind.

M | Läuft das auf die häufig prognostizierte Spaltung der Bevölkerung in information rich und poor hinaus?

HALLER | Sie spielen damit auf das so genannte Wissenskluft-Theorem an, wonach ein zwar beachtlicher, aber doch leicht schrumpfender Teil von formal gut Ausgebildeten in der Bevölkerung die Qualitätsmedien ganz gezielt und kompetent nutzen wird. Diejenigen, die die Süddeutsche Zeitung oder die FAZ lesen werden.

M | Und die Regionalpresse?

HALLER | Es kommt darauf an, welcher Regionalzeitung es gelingt, diesen Spagat hinzukriegen, sowohl die anspruchsvollen Leser in ihrer Region anzusprechen und zugleich ein General-Interest-Medium zu bleiben, das die gesamte Erwachsenen­bevölkerung im Verbreitungsgebiet erreichen soll. Verschiedene Blätter, zum Beispiel die Rheinische Post oder die Hannoversche Allgemeine oder die Stuttgarter Zeitung, vielleicht auch die Berliner Zeitung – um nur einige zu nennen – werden das schaffen. Es sind allerdings Zeitungen, die in einem Verbreitungsgebiet erscheinen, wo ein ausreichend großes anspruchs­volles Publikum lebt. In kleinstädtischen Gegenden rutschen die Regionalblätter immer tiefer in das Problem. Ihr Auflagen- und Reichweitenschwund ist so stark, dass sie sich die geforderte Qualität kaum mehr leisten können. Viel wird im Übrigen von einer pfiffigen, die lokalen Dienstleistungen einbindenden Internet-Strategie abhängen. Für kleinere Regionalzeitungen dürfte dies in den nächsten zehn Jahren die Überlebenschance sein.

Das Gespräch führte Günter Herkel

Leipziger Studie

Das Projekt der Leipziger Journalistik startete im Sommersemester 2003. Der zweistufig angelegten Delphibefragung von 60 leitenden Redakteuren aller Mediengattungen wurden Interviews mit 40 Experten vorgeschaltet. Der Zeithorizont für Prognose-Aussagen wurde auf fünf bis zehn Jahre gelegt. Für die zusätzlich anvisierte Online-Befragung konnten über das Uni-Rechenzentrum Leipzig im Mai 2006 rund 17.000, über die Berufsverbände dju und djv fast 40.000 weitere Mails verschickt werden. 5.000 Journalisten und Journalistinnen beteiligten sich an der Befragung. Immerhin 3.743 beantworteten fast alle 160 Fragen des Fragebogens.
Zwei Drittel der Befragten sind Männer, ein Drittel Frauen. Etwa 80 Prozent stammen aus den alten, 20 Prozent aus den neuen Bundesländern. Die Mehrheit – 70 Prozent – ist gewerkschaftlich organisiert. Im Schnitt arbeiten die Befragten seit rund 13,5 Jahren haupt­beruflich als Journalisten, der größte Teil in den Printmedien. 60 Prozent sind fest angestellt, jeder dritte Freiberufler, sechs Prozent Pauschalisten. Zwei Drittel verfügen über einen Hochschulabschluss, nur die wenigsten finden allein durch ein Volontariat Zugang zum Beruf.

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