Aber denken Sie mehr …

Der gesamte Journalismus in einem neuen Hand- und Lehrbuch

Das ist doch was: Da es an „praxisnahen Einführungen in den Journalismus“ hierzulande nicht mangelt, listet Stephan Ruß-Mohl dafür, weshalb sein neu erschienenes Hand- und Lehrbuch biete, was bisher gefehlt hat, gleich in der Einleitung sieben gute Gründe auf. Sie mögen alle zutreffen.

Angefangen beim grundsätzlichen Herangehen – sich vorrangig der journalistischen Praxis zuzuwenden und Erkenntnisse der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft dort einfließen zu lassen, wo das den Horizont erweitert. Über die „appetitanregende“ Darstellung mit überschaubarer Gliederung, zahlreichen Infografiken und Karikaturen. Bis hin zur besonderen Wichtung und Wertung von Inhalten oder dem umfangreichen aktuellen Quellenmaterial.

Der Wert eines solchen Handbuches, das erklärtermaßen „nach dem Vorbild amerikanischer Lehrbücher konzipiert ist“ misst sich dennoch nicht nur im Vergleich, sondern muss auch grundsätzlich erfragt werden dürfen. Der Wunsch, den „ganzen Journalismus“ in ein Handbuch zu fassen, ist sicher legitim. Doch damit ist Beschränkung programmiert, notgedrungen wird Auswahl zum Gütekriterium. Wer von den Funktionen des Journalismus in der modernen Gesellschaft über Textgattungen (Genres), journalistische Sprache und Arbeitsprozesse, Redaktionsstrukturen und Ressorts, Redaktionsmanagement bis hin zu juristischen, ethischen sowie Qualitätsfragen alles Wesentliche locker und illustriert auf knapp 400 Seiten darstellen will, läuft selbst bei größtem Bemühen Gefahr, stark zu verknappen oder komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen. Mehr als ein – wenn auch fundierter – Crashkurs kann dabei nicht herauskommen. Zunächst: Die gebotenen Inhalte, die gefundene Gliederung und vor allem die inhaltliche Gewichtung halten der Kritik stand. Nicht nur hier merkt man dem Buch die 20-jährige Lehrerfahrung des Verfassers an. Doch trägt das Beschriebene auch den Bedürfnissen der angestrebten homogenen Leserschaft Rechnung, die von Volontären über Journalistenschüler und Studierende bis hin zu gestandenen Profis reichen soll? Da sind Zweifel angebracht. Anfänger, die überwiegend Neues erfahren, werden Defizite weniger schmerzlich empfinden als gestandene Medienmacher, denen zu Sätzen wie „In Demokratien sind die Medien ‚frei‘ – und das heißt zunächst erst einmal frei von unmittelbarer Kontrolle durch die Regierung“ aus eigener Erfahrung viel Relativierendes einfallen

dürfte. Dass „Medienprodukte in der Regel zweimal verkauft werden: das Produkt selbst an das Medienpublikum, das Publikum an die werbetreibende Wirtschaft“ steht zehn Seiten weiter, auch von Kommerzialisierung, Wettbewerb und Konzentration ist die Rede. Dass das Spannungsfeld Medien und Gesellschaft damit tiefgründig ausgelotet würde, diese Überzeugung stellt sich auch nach systematischem Lesen schwer ein. Freilich, auch hier gilt der Rat des Publizisten Harry Pross, den Ruß-Mohl seinen Lesern ans Herz legt: „Lesen Sie viel, denken Sie viel, aber denken Sie mehr als Sie lesen.“ Ausführliche Literaturhinweise hinter jedem Abschnitt befördern zumindest das Weiterlesen. Das fehlende Sachwortverzeichnis dürfte jedoch jeden behindern, der den Paperbackband zum wiederholten Nachschlagen oder gar als Redaktionshandbuch nutzen will.

Dass Ruß-Mohl redaktionelles Marketing und Redaktionsmanagement als „Eckpfeiler journalistischer Arbeit“ sieht und darstellt, ist zeitgemäß und sicher nicht nur dem Verlag geschuldet. Hervorhebenswert sind auch die Abschnitte zur externen Einflussnahme auf die Medien und zur Eigenverantwortung der Macher. Speziell die Ausführung zum „Kräfte-Parallelogramm“ zwischen Journalismus und PR sind realitätsnah und brisant, zumal „bisher eine öffentliche Diskussion über Public Relations kaum stattgefunden hat“. Auf ein ähnlich unbeackertes Feld fallen die Anregungen, die am Ende zu Qualität und Fehlentwicklungen im Journalismus gegeben werden. Ob ein vorgeschlagenes Kriterien-Ranking oder Qualitätsmanagement praktisch weiterhelfen können, bleibt abzuwarten. Apropos: Das journalistische Metier ist durchdrungen von Fachbegriffen und Anglizismen. Ruß-Mohl hat an einer wohltuend-verständlichen Darstellung ganz ohne erhobenen Zeigefinger gefeilt. Lediglich einige Watchdog-Funktionen, Over- oder Underreportings und Take-offs sind ihm zu viel durchgerutscht. Entschädigt wird der Leser durch viele treffende Praxisbeispiele und Zeitungsausrisse, die auch heurige Medien-Hasen zur Selbstreflexion anregen dürften. Fazit: Lernen kann jeder noch etwas, umfassend oder partiell. Wozu sonst gibt es das Lehrbuch.

Stephan Ruß-Mohl:
Journalismus. Das Hand- und Lehrbuch
F.A.Z.- Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen
Frankfurt / Main 2003
ISBN 3-934191-62-2; 392 Seiten – 29,90 Euro.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Wie ethisch kann KI berichten?

Ein ethischer Kompass ist angesichts zunehmender Desinformation immer wichtiger – für Journalist*innen, aber auch Mediennutzende. Positivbeispiele einer wertebewussten Berichterstattung wurden jüngst zum 20. Mal mit dem Medienethik Award, kurz META, ausgezeichnet. Eine Jury aus Studierenden der Stuttgarter Hochschule der Medien HdM vergab den Preis diesmal für zwei Beiträge zum Thema „Roboter“: Ein Radiostück zu Maschinen und Empathie und einen Fernsehfilm zu KI im Krieg.
mehr »

VR-Formate im Dokumentarfilm

Mit klassischen Dokumentationen ein junges Publikum zu erreichen, das ist nicht einfach. Mit welchen Ideen es aber dennoch gelingen kann, das stand auf der Sunny Side of the Doc in La Rochelle im Fokus. Beim internationalen Treffen der Dokumentarfilmbranche ging es diesmal auch um neue Erzählformen des Genres wie Virtual Reality (VR).
mehr »

krassmedial: Diskurse gestalten

Besonders auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und Telegram verbreiten sich rechtsextreme Narrative, die zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Wie Journalist*innen dem entgegen wirken und antidemokratische Diskursräume zurückgewinnen können, diskutierten und erprobten etwa 70 Teilnehmende der diesjährigen #krassmedial-Sommerakademie von ver.di am Wochenende in Berlin-Wannsee.
mehr »

KI-Bots: Kompletten Schutz gibt es nicht

KI-Bots durchstreifen das Netz, „scrapen“, also sammeln dabei auch journalistische Inhalte, um damit KI-Modelle wie Chat GPT zu trainieren. Welche technischen Maßnahmen können Journalist*innen ergreifen, um ihren Content zu schützen? Tipps des KI-Beraters Branko Trebsche.
mehr »