Den Wandel begleiten und gestalten, sich digitale Kompetenzen aneignen und anwenden, Themen datenbasiert recherchieren und aufbereiten – das sind heutige zentrale Herausforderungen für Journalist*innen. Bei einer Tagung mit dem Titel „Journalismus-Ausbildung für morgen: Daten, Klima, Kollaborationen“, wurden Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Masterstudiengang Journalismus an der Universität Leipzig präsentiert. Vom einstmals oft einsamen Redakteur und Themenwächter hin zu kollektiven, arbeitsteiligen, transnationalen Recherchen und gemeinsamer Verwertung der Ergebnisse.
Fünf Jahre ist es her, dass die Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig den neu aufgelegten Masterstudiengang Journalismus startete. Ziel war damals vor allem, dem rasanten digitalen Wandel auch in der Ausbildung Rechnung zu tragen. Dazu kam im Herbst 2022 das Projekt „Crossborder Journalism Campus“ (CJC), in dem die Universitäten Leipzig, Göteborg, Oslo und Paris miteinander kooperieren. Insgesamt 140 Studierende sollen in zwei jeweils einjährigen Projektphasen bis Ende 2024 internationale journalistische Zusammenarbeit praktizieren können.
Internationale investigative Zusammenarbeit als Normalfall
Die Studierenden präsentierten ihre Erfahrungen aus dem ersten CJC-Jahrgang auf der Leipziger Tagung mit leuchtenden Augen, auch wenn das Projekt allen viel Kraft abverlangte. Großes Oberthema wurde der „European Green Deal“, ein Gesetzespaket, mit dem die EU bis 2050 Klimaneutralität erreichen will. Beim ersten Treffen in Brüssel im Oktober 2022 hatten die CJC-Teilnehmer*innen EU-Institutionen, Datenquellen und Expert*innen kennengelernt und kleine multinationale Teams gebildet. Zurück an ihren Studienorten arbeiteten sie an einzelnen Aspekten des EU Green Deal weiter. Sie sammelten arbeitsteilig Fakten und glichen sich dabei permanent ab, um am Ende das Recherchematerial zu teilen und schließlich für ihr eigenes (regionales/nationales) Publikum aufzubereiten und zu veröffentlichen. So haben es die Rechercheteams bei den „Panama Papers“ vorgemacht. Doch bei aller digitaler Innovation, betonte Projektkoordinatorin Brigitte Alfter (Uni Göteborg/Arena for Journalism Europe), sei die ewige Herausforderung: „Die Verbindung zum Publikum schaffen. Dazu ist es nötig, internationale Ansätze lokal zu bearbeiten und so für viele greifbar zu machen.“
Agile Arbeitsmethoden in komplexen Prozessen
Die größte Herausforderung in kollektiven Prozessen ist meist die Kommunikation. „Digitale Tools halfen uns, unterstützten auch bei der Überwindung von Sprachbarrieren, erübrigten aber nicht das Einlesen in oft komplizierte EU-Dokumente, notwendige Hintergrundgespräche mit Expert*innen, viel Arbeit in der Freizeit und den permanent nötigen Abgleich der Ergebnisse“, berichtete Nicolas Berlinger von der Universität Göteborg, der in seinem Team als Scrum-Master agierte – eine Art „Wächter des Prozesses“. Denn für die Strukturierung ihrer Arbeit wandten die Studierendenteams im CJC agile Methoden an. Berlinger erklärte den für ihre Zwecke eigens entwickelten SMÖRGÅSBORD (Ostertisch)-Prozess – eine Mischung aus den agilen Methoden Scrum, Kanban und Design Thinking: „Für einen perfekten Ostertisch muss ich erst einkaufen gehen, dann gut kochen, den Tisch decken und kann erst dann mein Essen auf den Tellern servieren und alle einladen, sich zu bedienen.“ Das hat offenbar bestens funktioniert: „Die Deutschen bedienten sich reichlich, machten gleich drei Artikel aus dem Thema, die Franzosen hatten einen und die Schweden nahmen zwei“, konstatierte Berlinger augenzwinkernd.
Der MDR veröffentlichte eine Reihe von deutschen Beiträgen aus dem Projekt . Darin geht es etwa um die EU-Taxonomie („Europas Geldquelle im Kampf gegen die Klimakatastrophe“), die AfD und das Klima („Zwischen Leugnung und Heimatschutz“), um den Emissionshandel („Der Fehler im System“), ETS-Zertifikate („Warum die Industrie jedes Jahr Milliarden von der EU geschenkt bekommt“) und das kritische Metall Lithium („Zwischen Hoffnungen und Realitäten des Recyclings“).
Der zweite Durchgang des CJC wird als „selbstlernendes System“ die Erfahrungen aus dem ersten Jahr direkt umsetzen. Ein „CJC Kochbuch“ soll am Ende des Projekts Erfahrungen bündeln und für alle nutzbar machen. Der erste Jahrgang der Teilnehmer*innen wird nun in neun- bis zwölfmonatige Volontariate einsteigen, die zum Ende des Masterstudiengangs vorgesehen sind.
Grundaufgabe bleibt das Erzählen guter Geschichten
Ohne Frage ist es beeindruckend, welche Skills die neue Generation von Journalist*innen beherrscht und welche Früchte konsequente Teamarbeit auch über Ländergrenzen hinweg tragen kann. Doch ist es das, was im redaktionellen Alltag wirklich gebraucht wird? So lautete die zentrale Frage einer Diskussionsrunde zum Abschluss der Tagung „Was braucht die Praxis?“. Anton Kostudis vom Kölner Express mochte darauf gar nicht direkt antworten, denn es gäbe so viele unterschiedliche Anforderungen, die an Journalist*innen gestellt werden könnten – das reiche „vom Bericht über den Karnickelzüchterverein bis hin zum Videoschnitt“. Deshalb brauche es vor allem „flexible Menschen, denn der Journalismus muss sich mit den Trends mitentwickeln.“
Johanna Lemke, leitende Redakteurin bei der Sächsischen Zeitung, findet es gut, dass universitär möglichst viel vermittelt wird. Aber es gehöre auch dazu, „auf dem Boden der Tatsachen zu landen“. Die Universität solle auch vermitteln, wie eigentlich das das Geschichtenerzählen gehe und wie man viele aus einem Thema generieren könne, denn: „Das sind nach wie vor 80 Prozent unserer Arbeit.“
Frank-Thomas Suppee, Abteilungsleiter im MDR-BildungsCentrum, machte der Universität Leipzig ein Kompliment für ihre erstklassige Arbeit, fragte aber auch: „Sind wir imstande, die Ressourcen aus der Ausbildung wirklich zu nutzen?“ Es sei ohne Frage eine journalistische Elite, die aus dem Masterstudiengang hervorgehe. „Doch wir brauchen auch die Vielfalt an Biografien, Herkünften, Perspektiven, Bildungshintergründen, die sich in den Redaktionen widerspiegeln müssen, um ein breites Publikum zu erreichen.“ Das bestätigte auch Marie-Louise Timcke von der Süddeutschen Zeitung: „Die Hürden für Praktika und Volontariate sind sehr hoch. Ein Studienabschluss wird vorausgesetzt, es gibt eine schlechte oder gar keine Bezahlung. Das müssen sich Studierende und ihre Familien leisten können. So sind viele schon aus rein finanziellen Gründen ausgeschlossen. Das müssen wir korrigieren.“ Aber auch der Elite-Nachwuchs sei unverzichtbar: „Die Volos von der Uni Leipzig und der TU Dortmund sind bestens ausgebildet, sie bringen die Grundlagen mit, sind breit aufgestellt, sie können Verantwortung übernehmen und Recherchegruppen leiten. Sie sind die Innovationstreiber*innen, die wir unbedingt brauchen.“
Daniel Vogelsberg von MDR Wissen brachte es auf den Punkt: „Vielfalt und gutes Handwerkszeug sind enorm wichtig. Wir müssen gute Geschichten erzählen, um die Menschen zu erreichen.“