Vor über vier Jahren wurde der Hamburger Journalist Oliver Neß von Polizisten schwer miß- handelt. Amnesty international sprach daraufhin – das erste Mal auf die Bundesrepublik bezogen – von „Mißhandlungen, die der Folter gleichkommen.“ Jetzt will der Bundesgerichtshof auf dem Wege der „Durchentscheidung“ die verurteilten Polizisten freisprechen. Für den Staatsrechtler Norman Paech ist das eine „Kumpanei von fast türkischem Ausmaß“.
Oliver Neß dreht auf einem Sportplatz einsam seine Runden. Seine Ärzte haben ihm leichtes Lauftraining verordnet. Irgendwo im Gebüsch sitzen mindenstens zwei Männer und beobachten ihn: „Herr Neß war schon ziemlich verschwitzt, ich konnte deutlich Wasserflecken auf seinem T-Shirt erkennen.“ Das schreibt der eine auf und der andere: „Er bewegte sich nach unserem Verständnis sehr sicher und zeigte nicht, daß er Probleme mit einem Fuß hat.“ Die Observierungsberichte liegen dem Fernsehmagazin KONTRASTE vor. Der Beitrag „Justiz und Polizei: Freibrief für rüde Attacken“ wurde am 20. August 1998 ausgestrahlt und im Rahmen einer Pressekonferenz am 21. August 1998 rund 40 Journalistinnen und Journalisten in Hamburg vorgeführt.
„Ich weiß, was ich erlebt habe…“
Sie waren ins Kino 3001 gekommen, um sich über die aktuelle Entwicklung im „Fall Neß“ zu informieren. Mit dem „heutigen Tag“ wolle er mit dem Verfahren nichts mehr zu tun haben, sagt Oliver Neß. Zuvor war bekannt geworden, daß der Bundesgerichtshof die verurteilten Polizisten, die ihn vor vier Jahren mißhandelten, freisprechen will. Neß: „Das hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun.“ Ihn interessiere nicht mehr, was in diesem Fall „Recht“ ist oder wie „Recht“ gesprochen werde: „Ich weiß, was ich erlebt habe und das ist richtig.“ Der Überfall auf Oliver Neß (siehe „M“ 7-8/1994 ff.) gilt als einer der bestdokumentierten Polizeiübergriffe der Republik. Dennoch sei zweifelhaft, ob die vom Hamburger Landgericht verurteilten Polizisten beim Verdrehen des Fußes von Neß „die Grenzen erlaubten Vorgehens in der konkreten Einsatzsituation pflichtwidrig überschritten“ haben. So steht es in einem Vermerk des für das Revisionsverfahren zuständigen Senats des Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig an den Generalbundesanwalt. Darüber hinaus rügt der BGH die „gänzlich unverständliche Verfahrensverzögerung“ der Staatsanwaltschaft Hamburg. Gut 23 Monate brauchte die Akte Neß, um von Hamburg nach Leipzig zu kommen.
Zweifel an der Beweiswürdigung des Hamburger Gerichts und die lange Aktenreise sind für den BGH Grund, um dem Generalbundesanwalt mitzuteilen, man gedenke auf dem Wege der „Durchentscheidung“ die beiden Polizisten, die Oliver Neß nachweislich mißhandelt haben und vom Landgericht Hamburg zu geringen Geldstrafen verurteilt wurden, freizusprechen. Der Polizeiskandal mausert sich zum Justizskandal, befindet der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner. Was hier vor sich gehe, sei eine „Kumpanei zwischen Polizei und Justiz von fast türkischem Ausmaß“ sagte der Staatsrechtler Norman Paech von der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Mit Gössner und Paech traten die Vorsitzende von Pax Christi, Gisela Wiese, der Verfassungsrechtler Jürgen Seifert aus Hannover, Wolf-Dieter Narr, Leiter des Instituts Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit der Freien Universität Berlin und Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie, der Leiter des Kriminologischen Institut Hamburg, Fritz Sack, der Schauspieler Rolf Becker als Vertreter der IG Medien und der Hannoversche Journalist Eckart Spoo vor die Presse, um die neuerliche Wende des Falls Neß zu bewerten.
„Wir kennen uns ja“
Bis zum Mai 1994 hatte der Fernsehjournalist mehrere Reportagen – unter anderem in „Monitor“ – über Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten veröffentlicht. Am 30. Mai 1994 beobachtete er eine Kundgebung des östereichischen Rechtsradikalen Jörg Haider auf dem Gänsemarkt in Hamburg. Neben einigen Dutzend Haider-Anhängern sind rund 200 Gegendemonstraten auf dem Platz. Zahlreiche Zivilpolizisten spazieren durch die Menge. Von zweien wird Neß kurz hintereinander angezischt: „Wir kennen uns ja.“ Plötzlich wird Neß von mehreren Polizisten in Zivil und in Uniform zu Boden gerissen. Fünf Beamte prügeln auf den Journalisten ein, mehrere andere sichern den „Tatort“. Mit Reizgaspistolen werden Augenzeugen auf Distanz gehalten. Neß erlitt schwere Prellungen und einen doppelten Bänderriß, seine Gelenkkapsel war völlig zerstört. Nach Aussagen der behandelten Ärzte war sein Fuß ein „Trümmerfeld“ und mußte in zweijähriger Behandlung „zusammengebastelt“ werden.
Wochen nach dem Vorfall gibt Neß zu Protokoll: „Nach allem was mir heute bekannt ist, glaube ich nicht an einen Zufall.“ Hier wurde eine „alte Rechnung“ beglichen“, mutmaßen Kollegen von Neß. Die Hamburger Polizei beginnt zu ermitteln – gegen sich selbst. Das dauert rund zwei Jahre und wundersame Dinge passieren: Obwohl dazu verpflichtet, die Funkprotokolle aufzubewahren, waren diese „aus Versehen“ gelöscht. Dann behauptete die Polizei, sie hätte kein eigenes Videomaterial. Erst als Fernsehbilder belegten, daß Polizisten in Uniform das Geschehen filmten, tauchte das Polizeivideo auf. Der links unten eingeblendete Zeitcode fördert zutage: Bei 13.24 Uhr bricht das Bild ab und baut sich bei 13.30 Uhr wieder auf. Die entscheidenden sechs Minuten fehlen…
„Aus Versehen gelöscht“
Der für eine freie Produktionsfirma arbeitende Kameramann Thomas Reinecke filmt die Prügelszene. Es gibt kaum einen Fernsehsender, der diese Szenen nicht gebracht hat. Das dürfte auch der später ermittelnden Staatsanwaltschaft nicht entgangen sein. Doch anscheinend gibt es bei der Hamburger Justiz keinen Videorecorder… Am 28. August 1994 kamen Kripobeamte mit einem Durchsuchungsbefehl in die Redaktion von Walter Webers TV-Firma „RTC“ und beschlagnahmten das Material.
Die Reinecke begleitende Reporterin Britta Ekberg im erwähnten KONTRASTE-Beitrag: „Als Neß am Boden lag, waren so viele Polizeibeamte auf ihm drauf, also fünf oder sechs mit Sicherheit. Und außerdem – wie auf dem Film zu sehen – Zivilbeamte, die das Ganze mit Tränengas gesichert haben, auch damit wir nicht näher ran kamen.“ Der taz-Fotograf Kai von Appen fotografierte die Szene ebenfalls – auf seinen Bildern sind einige der Täter klar erkennbar.
Obwohl genügend Material vorlag, brauchte die Hamburger Polizei Monate, um gegen sich selbst zu ermitteln. Beamte, die vor Ort im Einsatz waren, wurden im zehn-Minuten-Takt vernommen, wie Protokolle beweisen. Keiner der Beamten kann sich an das erinnern, was um die Mittagszeit des 30. Mai 1994 auf dem Gänsemarkt vorgefallen ist. Dagegen wird aus den Ermittlungsakten ersichtlich, daß Oliver Neß seit Jahren von der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts observiert wird.
„Für eine Abreibung längst fällig“
Im Gegensatz zu den Polizisten werden zivile Zeugen von der Staatsanwaltschaft stundenlang vernommen. Aus den Foto- und Filmdokumenten ist ersichtlich, daß mindestens zehn Polizisten bei dem Überfall und an der Mißhandlung direkt beteiligt waren.
Noch etwas wird während den Ermittlungen bekannt: Es gab Besprechungen zwischen Haiders Bodyguards und der Hamburger Polizei. „M“ liegt ein Dossier von zwei österreichischen Journalisten vor. Die beiden Kollegen recherchieren seit Jahren im rechtsradikalen Milieu Österreichs und sind Leuten auf der Spur, die im österreichischen Sicherheitsapparat tätig sind und gleichzeitig in Haiders Diensten stehen. Unter anderem konnte der eine Journalist einige Polizisten namhaft machen. Der andere Journalist berichtet von einem suspendierten Polizeibeamten, der mit Haider in Hamburg war.
Dieser suspendierte Polizist berichtete dem Journalisten: Nach der Kundgebung saßen Haider, seine „Beschützer“ und Hamburger Polizisten gemeinsam beim Bier. Die Hamburger Beamten erzählten, daß ihnen der „linke Journalist dauernd Schwierigkeiten“ mache. Der Mann sei „für eine Abreibung längst fällig“ gewesen. Der suspendierte österreichische Polizist lobt ausdrücklich das „handwerkliche Können und zielstrebige Vorgehen“ der Hamburger. Daß diese ihren „Job vor laufender Kamera“ gemacht haben, sei „nicht so genial“ gewesen.
„Jetzt reicht’s!“
Dieser Bericht wurde der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis gegeben. Allerdings wurde in diese Richtung nie ermittelt. Obwohl sich alle Welt davon überzeugen kann, daß bei der Mißhandlung von Neß ein gutes Dutzend Beamte beteiligt war, wurde nur gegen fünf tatsächlich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Gegen drei wurde Anklage erhoben und zwei Polizisten wurden schließlich am 26. Juni 1996 zu geringen Geldstrafen verurteilt: Wegen „fahrlässiger Körperverletzung“ der eine zu 4800 Mark und „Nötigung“ der andere zu 3200 Mark. In der Urteilsbegründung der Großen Strafkammer am Landgericht Hamburg hieß es, einer der beiden Polizisten wollte an Neß „ein Exempel statuieren.“ Neß und seine Anwälte – aber nicht nur diese – empfanden das Urteil als zu milde und wollten eine Revision des Urteils. Der Weg zum Bundesgerichtshof begann. Der „Fall Neß“ zog auch politische Kreise. „Jetzt reichts!“ heißt es in einer Erklärung der IG Medien: Als „alarmierend“ wurde betrachtet, daß anstatt der „Feststellung von Personalien und gegenbenenfalls die Festnahme die Ausübung körperlicher Gewalt und Mißhandlung“ die Praxis der Polizei sei. Der Hamburger Innensenator Werner Hackmann war von dem Fall so genervt, daß er sein Amt niederlegte. Und amnesty international sprach – auf die Bundesrepublik bezogen – das erste Mal von „Mißhandlungen, die der Folter gleichkommen.“ Für einen neuen Prozeß hat amnesty die Teilnahme eines offiziellen Vertreters der Londoner Zentrale angekündigt.
„Hohe persönliche und berufliche Belastung der Angeklagten“
Die Verfahrensverzögerung durch die Hamburger Staatsanwaltschaft wird nun vom BGH zu Gunsten der verurteilten Polizisten gewertet: Die „hohe persönliche, namentlich berufliche Belastung der Angeklagten durch das Verfahren ist bedeutsam“ heißt es im Schreiben an den Generalbundesanwalt. Weiter ist der BGH der Meinung, in Neß sei vielleicht doch ein „Störer“ zu sehen, dann läge ein „begründeter Verdacht des Landfriedensbruchs“ vor. Der Staatsanwaltschaft Hamburg wird der Vorwurf gemacht, nicht in dieser Richtung ermittelt zu haben.
Darüber hinaus wird vom BGH bezweifelt, ob der Kraftaufwand des Polizisten beim Verdrehen des Fußes tatsächlich rechtswidrig war.
„Ermunterung und Bedrohung, künftig kritische Journalisten auszuschalten“
Eckart Spoo, Journalist und jahrelang für die IG Medien im Presserat aktiv, dem Selbstkontrollorgan der deutschen Presse , wertet den voraussichtlichen BGH-Freispruch als „Ermunterung und Bedrohung“, zukünftig kritische Journalisten auszuschalten: „Dann kann man nicht mehr von einer freien Presse reden.“ Wolf-Dieter Narr erklärte, den verurteilten Polizisten wurde vom Landgericht „eine unschuldige Naivität unterstellt, die sie anders für ihren Beruf geradezu unfähig machte.“ Das gesamte Verfahren „zeichnet sich gegenwärtig durch mehrere, sich kumulierende Skandale“ aus. Jürgen Seifert plädierte dafür, Polizeibeamte dürfen „nicht die Prügelknaben der Nation“ werden; es müsse für diesen Berufsstand „ehrenrührig sein, wenn sie zum Knüppel greifen.“ Giesela Wiese wünscht sich, daß „ein Aufschrei durch diese Stadt“ geht und nennt die neuerliche Wende „Wahnsinn der Normalität“.
sieh auch M 7/96