Die Erfahrung mit der (fernen) Armut

Rudolf Stumberger, Soziologe und freier Journalist
Foto: Privat

Ein Essay über Hintergründe der Berichterstattung am Beispiel Äthiopien

Die junge Amerikanerin vom „Peace Corps“ lächelt mich am Eingang zum Hotel Ghion in Addis Abeba mit einem Pfirsichblütenlächeln an und sagt sinngemäß: „Ist das Land nicht schön?“ Fragt man nach, warum, sagt ihr hagerer junger Begleiter, ebenfalls vom „Peace Corps“: „Wegen der Leute, der Landschaft, der Kultur!“

Es ist ein eigenartiges Phänomen, dass Länder der Dritten – oder wie hier in Äthiopien der Fünften Welt – mit positiven Attributen gekennzeichnet werden. Ich kenne das von Indien, aber auch von Laos oder Guatemala. Meine Erfahrungen sind andere. Natürlich sind die Menschen meist freundlich, hilfsbereit und nett, wie auf dem ganzen Planeten.  – Zwischendurch gibt es auch andere. Und man findet in Äthiopien großartige Landschaften wie auch in Indien.

Aber dann ist da auch das andere: Flüsse – wenn sie überhaupt Wasser führen – sind meist mit Plastik vermüllte, nicht wirklich saubere Wasserläufe. Keimfreies Wasser gibt es sowieso nur gegen Geld. Öffentliche Busse sind technische Wracks und hoffnungslos überfüllt, vom Fahrplan nicht zu reden. Das Aushandeln von Preisen – für das Taxi, das Klopapier oder sonst was – ist eine nervige, energie- und zeitfressende Angelegenheit. Und dann das Soziale: Menschen, die in Lumpen gehüllt auf der Straße liegen und kaum vom sonstigen herumliegenden Müll zu unterscheiden sind. Kinder, die statt in die Schule zu gehen, Schuhe putzen. Junge Männer, die irgendwo herum liegen, sitzen, stehen, weil sie sonst nichts zu tun haben. Länder wie Äthiopien sind eigentlich eine Zumutung: Für die dort lebenden Menschen, die sich nach einem Existenzminimum, sozialer Aufstiegsmöglichkeit und Demokratie sehnen – nicht zuletzt deshalb flüchten viele nach Europa.

Und Länder wie Äthiopien machen auch etwas mit den Journalist*innen, die daraus berichten. Jedenfalls mit mir. Wenn Touristen dieses Land, das eines der ärmsten der ganzen Welt ist, in einer geschützten Blase bereisen, ist das ok, der Tourismus bringt Einnahmen. Dass sich Nichtregierungsorganisationen und Diplomaten hier hinter stacheldraht-bewehrten Grundstücken ein Stück europäischer Normalität sichern, zeigt die Kluft des Wohlstands- und Kulturgefälles auf: Keine Hilfsorganisation ohne Toyota-SUV mit Fahrer. Soweit bekannt und gängige, weil ansonsten kaum durchzuhaltende Praxis der in Äthiopien arbeitenden europäischen Organisationen.

Und ich halte es auch kaum für möglich, als Journalist ohne Anbindung an die eine oder andere Organisation hier wirklich arbeiten zu können. Meine aktuellen Berichte zu Äthiopien sind in Kooperation mit verschiedenen Organisationen entstanden: Dem deutschen Verein „Hawelti e.V.“ aus Nürnberg, der Bauhaus-Universität in Weimar, die ein Architektur-Institut an der Universität von Addis Abeba betreibt und der deutschen Entwicklungshilfeorganisation GIZ, die mich einen Tag zu ihren Projekten begleitete. Diese Unterstützung der journalistischen Recherche basierte vor allem auf Informationen und Gesprächen, finanziert wurde die Reise aber ausschließlich von mir als unabhängiger Journalist selbst (allerdings habe ich bei einem Hintergrundgespräch mit der deutschen Botschafterin in Äthiopien fast alle Plätzchen vom Teetisch aufgegessen).

Und jetzt versuche ich, zum Punkt zu kommen: Als Journalist beschreibe und analysiere ich die Welt (gut, was sich jetzt ziemlich geschwollen anhört), und als Sozialwissenschaftler ist mir auch die Metaebene, das Reflektieren über das eigene Handeln nicht fremd. Die Einführung des Hartz IV-Gesetzes in Deutschland 2005 hat gezeigt, dass damit die Angst vor dem sozialen Abstieg (bis hinunter zum völligen Entzug aller Lebensmittel, also real existenzbedrohend) zugenommen hat. Das ist, verglichen mit Äthiopien, noch immer eine hohe Messlatte. Doch Äthiopien zeigt eben auch, es geht noch weiter hinunter: Ein Leben in dreckigen Elendssiedlungen mit Wellblechbaracken, wo die Wege sich bei Regen in Morast verwandeln; Behinderte, die in Lumpen gehüllt auf der Straße um Pfennige betteln; alte Menschen, die in einem Hauseingang kauern und kaum von einem Sack Saatgut zu unterscheiden sind.

Meine sozialwissenschaftliche Hypothese, etwas salopp formuliert: Je nach Grad der eigenen sozialen Absicherung im Heimatland gehen einem diese Umstände unter die Haut. Für die Empire-erprobten englischen Senior*innen und die reisegruppengeschützten Tourist*innen (meist aus dem oberen Einkommenssegment) kein Problem, auch nicht für die NGO-Mitarbeiter*innen mit Auslandszulage. Und auch nicht für junge Menschen, die am Anfang ihrer beruflichen Karriere stehen und die teilweise katastrophalen sozialen Zustände in Äthiopien als exotische Erfahrung verbuchen, sicher verankert in den Sozialsystemen ihrer Heimat oder dem Wohlstand ihrer Familie. Und auch Journalist*innen, deren Reisen „gesponsert“ werden, sei es durch die eigene Zeitung, dem Rundfunk-Studio im fernen Nairobi (von dort findet im Wesentlichen die gesamte Korrespondententätigkeit für den afrikanischen Kontinent statt) oder durch humanitäre Hilfsorganisationen, haben durch dieses „Framing“, das etwa auch den Aufenthalt in abgeschotteten Hotels anbelangt, die Möglichkeit, sich die sozialen Verhältnisse vom Leib zu halten.

Mir ist das nicht gelungen. Als freier, unabhängiger Journalist merke ich, wie die desolaten sozialen Verhältnisse in diesem Land mich betreffen, Solidarität einfordern, schlicht auch Angst machen. Sind diese Verhältnisse irgendwann in der Zukunft auch in Europa möglich? Wie sieht unsere soziale Welt zu Hause, die ja schon sehr unter Druck steht, in 20 Jahren aus? Gleichen sich Afrika und Europa an? Und wenn ja, nach oben oder nach unten?

Es ist klar, dass diese subjektive Seite der Berichterstattung gewöhnlich unter den Tisch fällt. Die Alpträume der Journalist*innen und Gefühle während der Berichterstattung sind kein Thema (auch selten in Kollegengesprächen, man will sich keine Blöße geben). Das ist im journalistischen Tageshandgemenge auch nicht zu fordern. In Hintergrundbeiträgen aber schon!


Privatdozent Dr. Rudolf Stumberger lehrt am Soziologischen Institut der Frankfurter Goethe-Universität und arbeitet in München als freier Journalist für internationale Medien. Neben diversen anderen Publikationen ist er der Autor von „Flüchtlinge verstehen“, Riva-Verlag, München 2017. Ein Kapitel darin beschäftigt sich mit der Situation in Äthiopien.

 

 

 

 

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