Es waren die in Tageszeitungen abgedruckten Einzelbilder und die mehrseitigen Fotoreportagen in Nachrichtenmagazinen, die dem Fotojournalismus zu seiner gesellschaftlichen Relevanz verholfen haben. Im Zeitalter digitaler Medienkommunikation ist die Fotografie nur noch ein Element unter vielen und muss sich ständig neu behaupten. Wie Fotograf*innen und der Fotojournalismus auf diese Herausforderungen reagieren müssen und welche Chancen und Möglichkeiten dabei im digitalen Publizieren – auch in sozialen Netzwerken – liegen, darüber sprach Felix Koltermann mit Michael Hauri, Geschäftsführer der Agentur 2470.media.
M | Ist der Begriff Fotojournalismus im Zeitalter digitaler Medienkommunikation noch zeitgemäß?
Michael Hauri | Für mich ist der Fotojournalismus Teil eines viel größeren Ganzen, das ich digitalen Journalismus nenne. Als Fotograf*in muss man sich immer wieder bewusst werden, dass man sich in einer Blase befindet. Es ist wichtig, diese Blase zu verlassen und sich jenseits der medialen Grenzen nach Möglichkeiten umzusehen, sich visuell und multimedial auszudrücken. Der klassische Fotojournalismus zeigt sich heute vor allem in drei Formen: bei Instagram wegen des direkten Drahts zum Publikum, in Büchern und in Galerien bzw. im Kunstkontext. Alles andere dazwischen ist für mich sehr häufig – und das ist nicht abschätzig gemeint – Gebrauchsfotografie: etwa das Hintergrundbild bei den Tagesthemen oder die Aufmacherbilder bei faz.net und sz.de. Diese Fotografie dient dazu, Inhalte schmackhaft zu präsentieren und im weitesten Sinne zu verkaufen.
Wie definierst Du Multimedia und wie grenzt Du dies von anderen Konzepten wie dem Digital Storytelling oder Crossmedia ab?
Multimedia und Crossmedia sind Begriffe, die heute selbstverständlich geworden sind. Wenn eine Redaktion eine Instagram-Story produziert, ist sie automatisch in einem Medium, das zum multimedialen Arbeiten zwingt. Heutzutage ist es selbstverständlich, dass eine Zeitungsredaktion verschiedene Kanäle nutzt und diese unterschiedlich bespielt. Aber bei Fotograf*innen habe ich häufig den Eindruck, dass sie sich zu sehr in ihrer Bilderwelt bewegen und das große Potenzial dessen, was darüber hinaus möglich wäre, nicht richtig wahrnehmen. Ich möchte sie dazu ermutigen, die engen Grenzen des Mediums Fotografie zu erweitern und darüber hinaus zu denken. Da kommt für mich der Begriff Digital Storytelling ins Spiel, weil er weniger ein spezifisches Format meint, sondern die Offenheit mit sich schwingen lässt. Der Grundgedanke ist, nicht die Story in ein bestimmtes Format zu pressen, sondern Formate an Storys anzupassen und dadurch neue Perspektiven zu ermöglichen. Digital Storytelling ist für mich ein Mindset, keine Technik.
Hat die von Dir konstatierte Blase der Fotograf*innen auch damit zu tun, dass viele heute frei arbeiten und von den Prozessen in den Redaktionen abgeschnitten sind?
Das finde ich eine gute Beobachtung. Ich glaube, es hat tatsächlich etwas damit zu tun, ebenso wie mit der Frage, ob man bereit oder gewohnt ist, in einem Team zu arbeiten. Wenn ich jeden Tag als Einzelkämpfer*in durch die Gegend ziehe, fehlt mir in gewisser Weise eine Art Korrektiv, in dem man gemeinsam über Geschichten nachdenkt. Das ist tatsächlich ein Teil des Problems.
Würdest Du umgekehrt dafür plädieren, multimedial arbeitende Fotojournalist*innen, stärker in die Newsrooms einzubinden?
Unbedingt. Aber dazu müssten sie natürlich auch ihre Rolle anders definieren. In den Redaktionen braucht es im Prinzip technikaffine Allrounder*innen mit einem guten Gespür für Stories und deren visuelle Ebenen. Das ist eben weit mehr, als sich nur mit Fotografie auseinanderzusetzen, sondern was ich mit dem schon erwähnten Mindset verbinde: passend zu einer Geschichte oder einem Inhalt die Komponenten zu wählen und im Stande zu sein, diese umzusetzen. Und über eine handwerkliche Umsetzung hinaus können und sollten Fotograf*innen und visuelle Journalist*innen viel stärker auch Ideengeber*innen sein.
Mir scheint es, als wären abseits großer Leuchtturmprojekte Multimediaprojekte noch nicht im journalistischen Alltag angekommen. Täuscht der Eindruck?
Also zum einen würde ich sagen, dass die Zeit der großen Leuchtturmprojekte tatsächlich vorbei ist. Zum anderen sehe ich auf Portalen wie zeit.de, spiegel.de oder in den Apps der „Tagesschau“ oder der Welt, dass multimediale Elemente zum Standard geworden sind. Aber in einem Punkt muss ich dir Recht geben: Was in den letzten Jahren in Deutschland an visuell geprägten Digitalprojekten realisiert wurde, zeugt in erster Linie von einer großen Begeisterung für den Datenjournalismus seitens der Redaktionen. Die Fotografie spielt meist nur eine untergeordnete Rolle. Was im Alltag produziert wird (Audio-Einbindung, Videos, Umfrage-Barometer, interaktive Karten, Longreads usw.) bleibt meist weit hinter seinem visuellen und immersiven Potenzial zurück. Das hängt nicht nur mit einer fehlenden visuellen Kultur in manchen Redaktionen zusammen, sondern auch mit knappen Budgets, sinkenden Einnahmen und auf Effizienz getrimmten Redaktionsprozessen. Um das zu ändern, brauchen wir andere Wege, Qualitätsjournalismus zu finanzieren. Unter den diskutierten Lösungsansätzen sind die Anerkennung der Gemeinnützigkeit und eine Finanzierung über die Öffentliche Hand die vielversprechendsten.
Laut Reuters Digital News Report ist das Smartphone im Jahr 2020 das wichtigste Gerät zum Konsum von Nachrichten. Wie muss darauf bei der Entwicklung von visuellen Inhalten reagiert werden?
Wenn man es auf handwerkliche Aspekte runterbricht, dann ist das wichtigste, dass man nicht zu kleinteilig arbeitet und nicht in großformatigen Prints denkt, wo man kleinste Details noch scharf abbilden kann. Stattdessen müssen die Bilder erstmal im Hochformat gut funktionieren und dürfen nicht zu detailreich sein. Und im News-Bereich muss es dazu noch wahnsinnig schnell gehen. Für mich ist eine tolle Perspektive jenseits des Nachrichtengeschäfts, sich mit Virtual und Augmented Reality zu beschäftigen. Im besten Fall schaffen wir so Mehrwerte, z.B. wenn Nutzer mit ihrem Smartphone einen virtuellen Rundgang durch die neue Tesla-
Gigafactory in Grünheide machen können oder sie vor Ort das Smartphone vor ein bestimmtes Gebäude halten und darüber Informationen angezeigt bekommen.
Vor allem unter den jungen Zielgruppen sind neben Instagram Plattformen wie Snapchat und TikTok sehr prominent. Kann man dort fotojournalistische Inhalte transportieren und damit auch Geld verdienen?
Inhalte können damit auf jeden Fall sehr gut transportiert werden. Man braucht sich nur mal gewisse Storys bei der New York Times anzuschauen, die aus 30 bis 40 einzelnen Folien bestehen. Da wird mit einer Dramaturgie gearbeitet und man kann damit auch eine bestimmte Tiefe erreichen. Und wem das nicht genügt, der kann immer noch hochswipen und den kompletten Artikel lesen. Von daher bin ich überzeugt, dass das Medium per se durchaus die Möglichkeit bietet, etwas in einer bestimmten Tiefe darzustellen. Aber man muss sich trauen, Instagram oder auch TikTok jenseits von diesem Häppchenjournalismus zu nutzen. Damit direkt Geld zu verdienen ist natürlich heikel. Ich würde Fotograf*innen nicht raten, sich als Influencer*innen zu versuchen, weil dabei die Grenzen zur Werbung automatisch verwischt werden. Aber natürlich erweitere ich mit jedem neuen Medium, mit dem ich mich beschäftige, meine Kompetenzen und meine Erfahrung. Und das ist die Währung, auf die es in Zukunft viel stärker ankommen wird. Wichtig ist zu lernen, auf neue Entwicklungen viel intuitiver und schneller zu reagieren, sie sogar mitzugestalten, statt sich komplett überfordert zu fühlen, wenn in fünf Jahren das nächste Ding hochploppt.
Wenn Fotojournalist*innen auf Multimedia umsteigen wollen, mit welchen Investitionen ist dann zu rechnen?
In jedem Fall ist dies eine kluge Absicherung für die Zukunft. Denn die Erweiterung der Kompetenzen ins Multimediale versetzt einen in die Lage, auch mal von seinem Schreibtisch zu Hause aus Dinge zu erstellen, weil man nicht immer derjenige sein muss, der von vor Ort berichtet. Die größte, dafür notwendige Investition ist die eigene Arbeitszeit. Wenn man ganz neu anfängt, würde ich damit rechnen, über einen Zeitraum von einem Jahr im Durchschnitt mindestens einen Tag pro Woche zu investieren, damit man sich die Kompetenzen aneignen und schon erste Erfahrungen sammeln kann, um das einigermaßen professionell einzusetzen. Das wäre circa ein Fünftel eines Jahreseinkommens.
Also ist die Investition in Zeit wichtiger als in Technik?
Ja. Die Technik hat letztlich doch jede*r Fotograf*in schon zur Verfügung: Entweder mit den heutigen Kameras, die alle multimedial arbeiten und wo ich vielleicht noch mal ein Mikrophon oder einen schnelleren Rechner ergänzen muss, oder mit dem Smartphone, wo ich das Studio in der Hosentasche habe. Diese Kosten sind aus meiner Sicht vernachlässigbar. Nur wenn man sich auf Spezialgebiete wie zum Beispiel 360 Grad Videos fokussiert, ist es noch mal was Anderes.
Welche aktuellen Trends beobachtest Du und welche Entwicklungen erwartest Du in der Zukunft?
Für den Fotojournalismus sehe ich ein großes Potenzial im Bereich des immersiven Storytellings. Ich glaube, dass wir in Zukunft als Autor*innen zunehmend in die Rolle wechseln werden, nicht mehr selber nur Geschichten zu erzählen, sondern das Erleben von Geschichten zu ermöglichen, indem wir beispielsweise mittels Fotogrammmetrie oder 360 Grad Videos virtuelle Räume schaffen, in denen sich Zuschauer*innen mit einer Brille oder welchem Gerät auch immer bewegen und ihre eigene Geschichte erleben. Das ist ein spannendes Feld, das ein komplettes Umdenken erfordert, aber für pfiffige Fotograf*innen ganz neue Möglichkeiten bietet, mit ihren Projekten beim Publikum einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. ‹‹
Michael Hauri ist Geschäftsführer der von ihm mitgegründeten Agentur 2470.media und Trainer für Digital Storytelling. Zurzeit hat er an der Hochschule Hannover eine Vertretungsprofessur inne. Er studierte dort „Fotojournalismus und Dokumentarfotografie“ und war danach zuerst als Fotograf für Zeitungen und Magazine tätig, bevor er sich auf die Bereiche Multimedia Storytellung und Crossmediales Publizieren spezialisierte.