DOK Leipzig: Ungehorsam im besten Sinne

48 000 Besucher_innen beim Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm DOK 2016
Foto: Susann Jehnichen

Die 59. Ausgabe des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm DOK war geprägt von Stabilität und gleichzeitiger Weiterentwicklung. Die Besucherzahl von 48.000 blieb wie im Vorjahr, obwohl es weniger Vorführungen gab. Erstmals kürte eine interreligiöse Jury ihren Preisträgerfilm. Dabei hatte sie so viele von Frauen gemachte Filme zur Auswahl wie noch nie. Und Sprachbarrieren gab es mit einer neuen App fast keine mehr. Der „ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness“ ging an den deutschen Regisseur Jakob Schmidt und an die deutsch-kurdische Regisseurin Ayse Polat.

Festivaldirektorin Leena Pasanen Foto: Maiju Saari
Festivaldirektorin Leena Pasanen
Foto: Maiju Saari

Mit 100 Welt- und internationalen Premieren im Programm, 34 mehr als im Vorjahr, erreichte DOK Leipzig einen neuen Rekord. Festivaldirektorin Leena Pasanen konstatierte stolz: „Filmemacher_innen wissen, dass Leipzig der richtige Ort ist, ihre Werke der Welt zu präsentieren. Hier bekommen sie die ihnen gebührende Aufmerksamkeit – von der Fachwelt und einem begeisterten Publikum.“ Auf dem Filmfestival liefen insgesamt 309 Werke aus 49 Ländern; 350 Filmgespräche wurden geführt.

Filmemacherinnen im Vormarsch

Auch wenn es nicht noch einmal extra herausgestrichen wurde, war deutlich zu verzeichnen: Pasanen hat ihr Versprechen, mehr Filme von Regisseurinnen nach Leipzig zu holen, eingelöst. Ihr Standpunkt, dass Frauen nicht etwa die schlechteren Regisseure sind, sondern echte Gleichberechtigung verdienen, wird in der Liste der 2016er Preisträger_innen eindrucksvoll sichtbar: 13 Frauen (und nur vier Männer) erhielten Preise für ihre herausragenden Dokumentar- und Animationsfilme; die Schweizerin Heidi Specogna wurde für ihren Film „Cahier Africain“ sogar zweimal geehrt.

Proteste türkischer Filmschaffender

Türkische Filmschaffende fordern eine klare Ansage der deutschen Bundeskanzlerin gegen die Politik Erdogans Foto: Maiju Saari
Türkische Filmschaffende fordern eine klare Ansage der deutschen Bundeskanzlerin gegen die Politik Erdogans
Foto: Maiju Saari

Der Länderfokus Türkei prägte die Festivalwoche. Fast 30 türkische, kurdische und armenische Filmfachleute kamen nach Leipzig um ihre Filme zu präsentieren und sich zu vernetzen. Am Rande von DOK Leipzig protestierten sie gegen die Politik des türkischen Staatschefs Erdogan und verurteilten die Verhaftungen von Politikern der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP. Der Regisseur Ruzgar Buski sagte, Europa dürfe die Entwicklung der Türkei zu einem immer diktatorischeren Regime nicht schweigend hinnehmen. Die Künstler_innen forderten Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, jegliche Unterstützung für Erdogan zu stoppen. Die deutsch-kurdische Regisseurin Ayse Polat verwies mit Sorge darauf, dass sämtliche Internet-Verbindungen in kurdische Gebiete gekappt seien. „Wir wissen nicht, was dort zurzeit wirklich geschieht.“ Es sei aber mit dem Schlimmsten zu rechnen. 

Neue Untertitel-App

Die Kooperation des Festivals mit der neuen Untertitel-App „Starks“ behob einen Großteil der Übersetzungsprobleme, die es bislang bei Filmen ohne deutsche Untertitel gab. Mit der übers Smartphone nutzbaren App waren deutsche Untertitel sowie erweiterte Untertitel für Hörgeschädigte für 33 ausgewählte Festivalfilme abrufbar. Tausende Besucher_innen nutzten diesen Service, der weiter ausgebaut werden soll.

Magnet für Fachpublikum

Mit 1.900 internationalen Filmfachleuten zog der Branchenbereich DOK Industry eine neue Rekordzahl von Fachbesucher_innen an. 800 Treffen gab es im DOK Co-Pro Market, 75 Fachleute vernetzten sich fachübergreifend bei der neuen eintägigen Konferenz DOK Exchange, 14 Filmprojekte stellte DOK Previews vor, von denen einige schon Verleihfirmen und Ankäufer fanden.

Ungehorsame ver.di-Jury teilte den Preis

Ausgezeichnet mit dem ver.di-Preis: Jakob Schmidt Foto: Maiju Saari
Ausgezeichnet mit dem ver.di-Preis: Jakob Schmidt
Foto: Maiju Saari

Am 5. November wurden bei der Preisverleihung insgesamt 21 Auszeichnungen in einem Gesamtwert von 77.000 Euro vergeben. Davon nahm der junge deutsche Regisseur Jakob Schmidt allein vier Preise für seinen Film „Zwischen den Stühlen“ entgegen. Die in diesem Jahr neu zusammengesetzte ver.di-Jury bewies ihr exzellentes Gespür, denn sie hatte Schmidts meisterhafte Beobachtung von drei jungen Referendaren auf ihrem steinigen Weg ins Lehramt vor allen anderen Jurys ausgezeichnet. Doch sie wollte den Blick auch auf einen aktuellen Brennpunkt lenken und entschied sich getreu dem Festival-Motto „Ungehorsam“, den mit 2.500 Euro dotierten „ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness“ zu gleichen Teilen auch an die deutsch-kurdische Regisseurin Ayse Polat und ihren Film „The Others“ („Ötekiler”) zu vergeben. Die deutsch-türkische Koproduktion thematisiert auf sachliche, authentische Weise den Völkermord an den Armeniern.

Ausgezeichnet mit dem ver.di-Preis: Ayse Polat Foto: Maiju Saari
Ausgezeichnet mit dem ver.di-Preis: Ayse Polat
Foto: Maiju Saari

Beim Screening des ver.di-Preisträgerfilms „Zwischen den Stühlen“ am letzten Festivaltag war der Kinosaal bis auf den letzten Platz gefüllt; das Publikum feierte die bitter-komische Story aus dem deutschen Schulbetrieb.

Jakob Schmidts Film soll ebenso wie Ayse Polats „The Others“ möglichst vielen ver.di-Mitgliedern zugänglich gemacht werden. Die Termine von Vorführungen in verschiedenen Städten (u.a. Kassel, München und Berlin) werden rechtzeitig bekannt gegeben.

Die 60. Ausgabe des ältesten Dokumentarfilmfestivals der Welt findet vom 30. Oktober bis zum 5. November 2017 statt. Dafür werden unter den ver.di-Mitgliedern neue „DOK-aholics“ gesucht, die die verantwortungsvolle Juryarbeit übernehmen. Eine entsprechende Ausschreibung wird es im Sommer 2017 geben.


Jurybegründung: „ver.di-Preis für Menschlichkeit, Solidarität und Fairness“

Die ver.di-Jury: Ludwig Sporrer, Nancy Brandt, Tobias Baumann, Cornelia Hudl und Jan-Markus Holz (v.r.n.l.)  Foto: Stefan Giessner
Die ver.di-Jury: Ludwig Sporrer, Nancy Brandt, Tobias Baumann, Cornelia Hudl und Jan-Markus Holz (v.r.n.l.)
Foto: Stefan Giessner

Wir haben uns dazu entschieden, den „ver.di-Preis für Menschlichkeit, Solidarität und Fairness“ gerecht zu teilen. Der Preis geht ex aequo an „Zwischen den Stühlen“ von Jakob Schmidt und „The Others“ von Ayşe Polat.

Wir haben uns für „Zwischen den Stühlen“ entschieden, weil diese Langzeitbeobachtung einfühlsam, humorvoll und direkt von der Situation in den Schulen erzählt. Bildung ist die dringendste Aufgabe in unserer immer komplexer werdenden Gesellschaft und nur faire Chancen sind die Basis für die heranwachsende, junge Generation.

Ayşe Polats Film „The Others“ ist erschreckend aktuell. Ihr gelingt es, mit einfachen Mitteln eine universelle Geschichte über Ausgrenzung und die Notwendigkeit von Vergangenheitsbewältigung zu erzählen. Ein zukünftiges, friedliches Zusammenleben findet hier sein Fundament.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Riesa: Einschränkung der Pressefreiheit

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen beobachtete am vergangenen Samstag die Demonstrationen in Riesa rund um den AfD-Parteitag. Ziel der Beobachtung war der Schutz der Presse- und Berichterstattungsfreiheit sowie der Aufdeckung potenzieller Gefährdungen für Journalist*innen. Insgesamt mehr als sieben Stunden war die dju während der zahlreichen Demonstrationen vor Ort. Die Gewerkschaft übt nun insbesondere gegenüber der Polizei Kritik am Umgang mit Journalist*innen und an der Einschränkungen der Pressefreiheit während des Einsatzes.
mehr »

Die Zukunft der Filmförderung

Am 19. Dezember 2024 wurde im Bundestag über die Zukunft der deutschen Filmwirtschaft entschieden, der vom Bundestagsausschuss für Kultur und Medien beschlossene Gesetzentwurf zum Filmfördergesetz (FFG) stand zur Abstimmung auf der Tagesordnung. ver.di begrüßt eine Reform der Filmförderung, denn in Zukunft müssen Filmproduktionen Tarif- und Urheber-Vergütungen verbindlich einhalten.
mehr »

Audiodeskription: Die KI liest vor

Die Hälfte der öffentlich-rechtlichen Sender verwendet inzwischen auch synthetische oder mit Künstlicher Intelligenz (KI) generierte Stimmen, um für Fernsehformate Audiodeskriptionen zu erstellen. Das ergibt sich aus Nachfragen von M bei den neun ARD-Landesrundfunkanstalten und beim ZDF. Neben professionellen Sprecher*innen setzen der MDR, WDR, NDR, Radio Bremen und das ZDF auch auf synthetische oder KI-Stimmen für die akustische Bildbeschreibung.
mehr »

Gendergerechtigkeit per KI überprüfen

Ein Gender-Analyse-Tool der Technischen Universität München zeigt, wie Frauen medial ausgeklammert werden. Das Ziel vom  Gender Equality Tech Tool – GETT  ist es, die Sichtbarkeit von Frauen in der Berichterstattung bewusst zu fördern. Mit GETT kann über eine Kombination aus klassischen Algorithmen und Open-Source-KI-Modellen nachgeprüft werden, wie oft Frauen im Vergleich zu Männern in den Medien genannt und wie sie dargestellt werden.
mehr »