Fenster zur Welt: RAW Photo Triennale

Laura Pannack, aus der Serie ›Baruch‹, 2020, Ausschnitt. Foto: Laura Pannack

In ihrer vierten Ausgabe zeigt die RAW Photo Triennale Worpswede unter dem Thema „Turning Point. Turning World“ noch bis zum 11. Juni die Welt im Wandel. In den vier Häusern des Worpsweder Museumsverbundes gibt es vier Hauptausstellungen: „#EGO“ bietet künstlerische Positionen im Dialog, die von der Suche nach sich selbst erzählen. Bei „#FAKE“ geht es um die Suche nach Wahrhaftigkeit. „#NEXT“ dreht sich um aktuelle sozioökologische Fragestellungen und „#RISK“ verhandelt aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. Festivaldirektor Jürgen Strasser über die Schau und den Mythos Worpswede.

M I Man vermutet ein solches Festival mit jungen internationalen, in Deutschland aber weitgehend unbekannten Positionen eigentlich nicht in dem kleinen Künstlerdorf im Landkreis Osterholz in Niedersachsen. Denn hier, im Teufelsmoor, so könnte man glauben, steht die Welt noch still. Wie konnte sich das RAW Festival gerade hier etablieren?

Jürgen Strasser Foto: MatthiasSabelhaus

Jürgen Strasser | Der Künstlerort Worpswede ist meines Erachtens der Festivalstandort schlechthin. Es gibt in Deutschland und wahrscheinlich auch in ganz Europa keinen Ort, der gemessen an seiner Größe über ein so dichtes und hochklassiges Netz an Ausstellungsmöglichkeiten verfügt. Festivalbesucherinnen und -besucher sind sofort mittendrin im Geschehen. Es bedarf keiner großen Orientierung. Allein fünf Ausstellungsorte befinden sich in der Bergstraße, jeweils nur eine Minute Fußweg voneinander entfernt. Und alles eingebettet in eine Landschaft, die seit 140 Jahren Kunst- und Kulturschaffende aus allen Regionen der Republik anzieht und den Mythos Worpswede nachhaltig am Leben hält. Ein weiterer Faktor ist die breite Unterstützung, die wir von Beginn an im Ort und in der Region bekommen haben.

Wir reagiert das Publikum auf Ihre Themensetzungen?

Die vier Hauptausstellungen der diesjährigen RAW Photo Triennale sind deutlich komplexer, konzeptioneller und politischer als in den vorangegangen Jahren und natürlich waren wir auf die Reaktionen des Publikums gespannt, vor allem auch darauf, wie unser Stammpublikum reagiert. Und ich muss sagen: Ich bin positiv überrascht. Wir scheinen mit unseren Themen und der dazugehörigen Auswahl an künstlerischen Positionen den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Anders kann ich mir die breite Zustimmung nicht erklären. Und vielleicht hat man uns diesen künstlerischen Quantensprung schlicht und einfach nicht zugetraut –  und die Kritiker schweigen.

Diese vier Ausstellungen wurden erstmals von externen Kuratorinnen und Kuratoren zusammengestellt: #RISK von Julia Bunnemann (Brighton/London), #NEXT und #EGO gemeinschaftlich von Daria Bona (Köln) und Cale Garrido (Hamburg), #FAKE von Wolfgang Zurborn (Köln). Warum dieser Schritt, die Kuratierung abzugeben? 

Ein „RAW“ als Bezeichnung für das digitale Negativ bedarf der Entwicklung in der digitalen Dunkelkammer, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Genauso verhält es sich bei unserem Festival. Auch wir befinden uns im ständigen Entwicklungsmodus. RAW ist für uns die Verpflichtung, von Ausgabe zu Ausgabe neue Akzente zu setzen, neue Formate zu entwickeln und unser Publikum neu zu überraschen. Daher haben wir für die vierte Ausgabe von RAW die künstlerische Verantwortung aus der Hand gegeben und externe Kuratorinnen und Kuratoren damit beauftragt. Wir wollten damit als RAW-Team auch vermeiden, zu sehr in der eigenen Echokammer zu bleiben. Vorgabe unsererseits waren das Festivalthema und die Schlüsselbegriffe zu den Hauptausstellungen. Aus dem Auswahlprozess haben wir uns allerdings komplett herausgehalten. 

Die RAW Photo Triennale Worpswede steht für aktuelle Positionen und Tendenzen in der Fotografie – präsentiert in einem, wie Sie es nennen „gallischen Dorf“ mit nicht einmal 10.000 Einwohnern. Es ist das „kleinste große Festival, sagen Sie. Gibt es ein vergleichbares Festival, an dem Sie sich orientieren?

Als ich 2015 die Idee hatte, in Worpswede ein Fotofestival zu organisieren, hatte ich die Wiesbadener Fototage im Blick. Ein Festival, das klein angefangen hat und von Ausgabe zu Ausgabe gewachsen ist. Das ist auch unser Weg. Organisch zu wachsen, aber weiterhin die familiäre Atmosphäre beizubehalten oder wie es der Publizist und Kurator Hans-Michael Koetzle auf den Punkt gebracht hat: „Worpswede erinnert ein wenig an das frühe Arles. Da werden keine mächtigen Torten gebacken, sondern Petit Fours gereicht.“

In welcher Weise werden die Fragen von heute hier behandelt?

Unsere Ausstellungen behandeln nicht nur die großen Themen der Welt, sondern auch persönliche Wendepunkte. Beispielhaft möchte ich hier die Arbeit „Baruch“ der englischen Fotokünstlerin Laura Pannack nennen, die den Ausstieg eines jungen Mannes aus der streng orthodoxen-jüdischen Glaubensgemeinschaft begleitet. Ihr gelingt es, in wunderbar poetischen Bildern die innere Zerrissenheit dieses jungen Mannes zu zeigen. Die Arbeit wird übrigens erstmals überhaupt ausgestellt. 

Der Reiz des Gröberen

Auffällig ist eine Hinwendung zu installativen Foto- und Videoarbeiten weg vom Tafelbild an der Wand. Wie frei verstehen Sie Fotokunst?  Und wie lässt sich das mit dem Namen des Festivals „RAW“ in Verbindung bringen?

Wir haben unser Festival RAW genannt, weil unser Anspruch nicht der ist, perfekt zu sein. Im Gegenteil: Im Gröberen, Rauen liegt ein enormer Reiz – auch wenn unser Festival in diesem Jahr musealer daherkommt, als je zuvor. Im Fokus von RAW stehen gesellschaftliche und politische Fragen, zu denen wir ein künstlerisches Statement abgeben. Diesem Anspruch wollen wir, mal raw und rough, mal feiner ziseliert, immer gerecht werden. 

Wenn die Künstlerkolonie Worpswede für einen Aufbruch in die Moderne steht, wofür steht RAW? 

Das Thema „Turning Point. Turning World“ korrespondiert mit dem Ausstellungs-, Kunst- und Forschungsprojekt „Zeitenwende“ der Worpsweder Museen. Gegenstand dieses Projektes ist die Rolle Worpswedes als Ort von Utopien und Neuerfindung. Mit ihrem kritischen Blick auf aktuelle Themen und der Fokussierung auf junge und aufregende Fotokunst ergänzt RAW den Ausstellungskanon der Museen um ein bewusst von außen hineingetragenes Element, das die Impulse der Museumslandschaft aufnimmt und weiterentwickelt. So versteht sich RAW auch als ein Akteur, der Außenansichten nach Worpswede einbringt und ein Fenster zur Welt öffnet.

Zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 wurde aus der RAW Photo Triennale „RAW-FREI-HAUS. In Worpswede gelang es lange vor großen Museen und Ausstellungshäusern, sich den neuen Realitäten zu stellen. In welcher Weise haben Sie die Arbeit mit digitalen, audiovisuellen Medien und Vermittlungsformaten weitergeführt?

Zunächst bin ich sehr froh darüber, dass es in diesem Jahr keinerlei Einschränkungen gibt und unsere Ausstellungen wie geplant stattfinden können. Die Produktion eines umfangreichen digitalen Zwillings wie bei der letzten Ausgabe von RAW im Frühjahr 2020 war für uns nie eine Option, da wir uns als Publikumsveranstaltung sehen. Ganz verzichtet haben wir auf digitale Vermittlungsformate allerdings nicht und für alle 22 Werkreihen in den vier zentralen Ausstellungen #EGO, #FAKE, #NEXT und #RISK Audioguides entwickelt, die Besucherinnen und Besucher vor Ort abrufen können. Es stehen auch Videos zur Verfügung, in denen das kuratorische Team in die jeweilige Ausstellung einführt.

Mit welchen Partnern kooperieren Sie bei diesem Festival?

RAW ist als Kooperationsprojekt angelegt. Wichtig war uns von Anfang an der Kontakt zu Hochschulen und fotografischen Institutionen. 2020 zum Beispiel waren die Hochschulen aus Hannover und Bremen sowie die Deutsche Gesellschaft für Photographie zu Gast. In diesem Jahr sind es die Ostkreuzschule für Fotografie Berlin, die Deutsche Fotografische Akademie und erstmals international die fotografische Plattform Photoworks aus Brighton. Die Arbeiten von Studierenden sowie Absolventinnen und Absolventen sind unter anderem in der Sonderausstellungsreihe „RAW Plus“ zu sehen. Auch die Zusammenarbeit mit dem PhotoBookMuseum Köln und dem Deutschen Jugendfotopreis ist das Ergebnis des Kooperations- und Netzwerkgedankens. 

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