Globalisierung und Digitalisierung führen tendenziell zu sozialer Desintegration, so Medienethikprofessor Alexander Filipović bei der Eröffnung der Jahrestagung des Netzwerks Medienethik in München. Wird die Integrationsfunktion der Medien zum „Auslaufmodell“? Die Tagungsteilnehmenden waren sich einig, dass diese Aufgabe wichtiger ist denn je – angesichts aufkommender Nationalismen und Social Media-Kommunikation in Echokammern und Filterblasen.
Wie können Journalist_innen diese Integrationsfunktion wahrnehmen, die nach Filipović darin besteht, Gesellschaft als Ganzes zu sehen und Einzelne einzubinden? Etwa Geflüchtete: „Darüber berichten wir genauso wie über andere Themen“, sagte Steffen Jenter, Politik-Ressortleiter beim Bayerischen Rundfunk. Er antwortete auf die Frage nach seiner ethischen Haltung, er verstehe sich als „Anwalt für Demokratie und Grundwerte, für Flüchtlinge geht mir persönlich zu weit.“ Gleichwohl kritisierte er die gängige Berichterstattung: Zu wenig über die Situation in den Herkunftsländern, jetzt vor allem über Abschiebungen und „wie wir die Leute schnell loswerden“.
Mit Transparenz legitimieren
Es gelte, im Dialog mit Rezipient_innen die richtige Sprache zu finden, den richtigen Umgang mit Scharfmachern, Hetze und Fake News im Netz, dem Vorwurf, „auf einer Seite zu stehen“, zu begegnen. „Wir müssen auf Facebook präsenter sein, unsere Arbeit transparent machen“, so Jenter, sonst gebe es ein „Legitimationsproblem“. Dabei sei seine Arbeit transparenter und werde stärker kontrolliert als die anderer News-Produzent_innen: „Wenn ich Mist baue, muss ich in den Rundfunkrat und da vorsingen.“
Die Angst vor dem Vorwurf der Parteinahme zeigte sich auch in der Diskussion über die Richtlinie 12.1 des Pressekodex und die Frage, ob und wann die Herkunft von Straftätern genannt werden darf. Medienwissenschaftler Tobias Eberwein hielt es „für ein Versäumnis“, dass die Anpassung der Antidiskriminierungsrichtlinie ausblieb und der Presserat sie bestätigte. Dass die Nicht-Nennung Normalfall sei, widerspreche der journalistischen Äußerungspflicht. Man solle die Ziffer 12.1 streichen, nur das allgemeine Diskriminierungsverbot beibehalten und die Entscheidung der Redaktion überlassen, ihr aber gleichwohl in Leitfäden Hilfestellung geben. In der anschließenden Diskussion gab es kritische Stimmen zur „Normalisierung“ von Exklusionsmerkmalen wie Herkunft oder Religion.
Kontext liefern
Wie schwierig es ist, den Anschein von Parteilichkeit zu vermeiden, gleichzeitig aber nicht in der journalistischen Vermittlerrolle Populist_innen und ihren Medienstrategien auf den Leim zu gehen, demonstrierte Rieke Havertz, Chefin vom Dienst bei ZEIT online, am Beispiel der Berichterstattung über US-Präsident Donald Trump. Im Gespräch mit dem in Ohio lehrenden Kommunikationswissenschaftler Bernhard Debatin sagte sie: „Wir dürfen uns nicht in die Rechtfertigungsschleife begeben.“ Es gelte, auch über Trump fair und faktenbasiert zu berichten, für Bewertungen gebe es den Kommentar. Doch mache man sich „da nicht zum Lautsprecher seiner Geräuschefabrik?“, gab Debatin zu bedenken. Havertz entgegnete, um das zu vermeiden, werde zu der Nachricht auch der Kontext geliefert. Etwa in der Meldung über den von Trump verfügten Einreisestopp aus sieben muslimischen Staaten sei erläutert worden, dass Länder wie Saudi-Arabien, „die einem im Zusammenhang mit Terrorismus noch in den Sinn kommen“ , nicht dazu gehören.
Debatin konstatierte, in den USA verabschiedeten sich traditionelle Medien nun von dem „He-said-She-said-Journalismus“ und berichten teilweise zeitversetzt über Trumps Pressekonferenzen, um seine Äußerungen vorher überprüfen zu können. Jedem Statement des Präsidenten folgt so ein Faktencheck – etwa in der New York Times.
Die gesellschaftliche Spaltung in den USA gehe bis in die Medien hinein: Auf der einen Seite Qualitätsmedien wie New York Times und Washington Post, auf der anderen Cable News Channels wie Fox News, die Donald Trump im Wahlkampf ein Forum boten. „Teile der Bevölkerung hängen an Fox News, weil sie dort das widergespiegelt bekommen, was sie ohnehin schon glauben“, so Debatin zur Filterblasenbildung.
Seinen Wahlsieg verdanke Donald Trump den sozialen Netzwerken, in die er zwei Drittel seines Wahlkampfbudgets steckte. Trump präsentiere sich zwar als „emotional und unbeherrscht, agiert aber sehr strategisch“, so Debatin. Mit Hilfe von Cambridge Analytica habe sein Wahlkampfteam die sozialen Medien gezielt mit Nachrichten füttern können. So erhielten seine Anhänger positive Infos und diejenigen von Bernie Sanders wurden mit dem Gerücht, Hillary Clinton wolle einen Krieg gegen Russland anzetteln, gegen diese aufgebracht. Debatin zeichnete ein düsteres Szenario: In der Ära Trump werde Journalismus als „nationaler Sündenbock“ und Sicherheitsrisiko (Unterstellung, er berichte „aus Eigeninteresse“ nicht über Terrorismus) abgestempelt und Pressefreiheit zunehmend eingeschränkt.
Wie sehr Journalist_innen sich von social media getrieben fühlen, zeigte sich in Äußerungen der Praxisvertret_innen. „Es ist schwierig geworden, in die Tiefe zu gehen“, so Jenter. Und: “Ständig sind wir dabei, AfD-Politiker zu erwähnen.“ Havertz freut sich, wenn es mal keinen neuen Tweet von Donald Trump gibt – zwischen 9 und 11 Uhr, wenn man in den USA noch schläft.
Integration durch Partizipation
Wie kann die soziale und mediale Spaltung der Gesellschaft verringert und Integration befördert werden? Wie kann man denen eine Stimme geben, die sich überhört fühlen? Die Medienethiktagung lieferte dazu zahlreiche Anregungen.
Ob alternative Medien im Web durch Bürgerbeteiligung Integration stützen, überprüfte Tobias Eberwein anhand von Ergebnissen einer europaweiten Studie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Obwohl die vielen rechtsextremen Plattformen in der Analyse ausgeschlossen wurden, zeigten sich erhebliche Unterschiede bei den interviewten 54 Bürgerjournalist_innen. Ihre Motive reichen von Spaß am Programmieren oder Schreiben, Wissensvermittlung bis hin zum politischem Aktivismus; ihr „Wertefundament“ von journalistischen Kodizes bis zu „Ethik interessiert uns nicht.“ Fazit: Eine gesellschaftlich integrierende Funktion findet sich vor allem in hyperlokalen Onlinemedien wie ruhrblogger.de, die seit 2014 eine „deeskalierende Gemeinschaftsbildung“ anstreben. Es gebe aber auch viele, bei denen sich die „gesellschaftliche Relevanz nicht zeigt, die über Nebensächliches plaudern“, so Eberwein.
Die Möglichkeiten des professionellen Journalismus, etwa durch eine Erweiterung von Perspektiven (Bsp. SZ-Kolumne von Geflüchteten, taz-Ausgabe von Leidmedien.de ) und Berichterstattungsmustern (Bsp. Anwaltschaftlicher oder Konstruktiver Journalismus), wurden ebenso thematisiert wie ethische Reflexionsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen der Medienproduktion – sei es durch interne Blattkritik, veröffentlichte Redaktions-Debatten, Leseranwälte und Medien-Ombudsleute oder durch Moderieren von User-Kommentaren. “Medienethische Metadiskurse sind den Leser_innen zumutbar“, lautet auch ein Resümee der österreichischen Kommunikationswissenschaftlerin Larissa Krainer. Trump vor Augen und Populisten im Nacken – sollten Journalist_innen mit Haltung sich da nicht stärker dieser vielfältigen Instrumente in ihrem Handwerkskasten bedienen?