Gestempelt zum Propagandisten

Militärische Stellungen waren Tabu, Opfer-Bilder im Fokus

Fehlende Sorgfalt bei der Recherche und die restriktive Medienpolitik der Hisbollah prägten die Berichterstattung aus dem Libanon.

Er war der Medienmann des neuen Libanon-Krieges: Salam Daher alias „Green Helmet“ machte Schlagzeilen, als er Ende Juli nach dem Beschuss eines Wohnhauses in der südlibanesischen Ortschaft Qana ein totes Kind vor die Kameras hielt. Viele europäische Zeitungen charakterisierten den 38-jährigen Katastrophenschutzhelfer danach als willigen Propagandisten der schiitischen Hisbollah (Partei Gottes) von Generalsekretär Hassan Nasrallah – ohne je mit dem bärtigen Mann gesprochen zu haben. In der arabischen Presse hingegen wurde der „Green Helmet“ mit dem toten Baby in den Händen zum Symbol des „zweiten Massakers von Qana“. Denn schon im April 1996 war Daher an den Rettungsarbeiten beteiligt, als über hundert Zivilisten durch israelischen Beschuss ums Leben kamen. Vergebens hatten sie gehofft, in einem Uno-Quartier Unterschlupf zu finden vor den israelischen Bomben und Raketen.
Ein Jahrzehnt später, am 30. Juli 2006, starben in einer Nacht 28 Menschen. „Massaker“, „Barbarisch“, „Blutbad“ prangte es am Montag danach in großen roten Lettern von den Titelseiten vieler arabischer Zeitungen. „Ein neuer Holocaust im Nahen Osten“ lautete gar die Schlagzeile der Tageszeitung „Al-Khalij“ aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Einschätzung der liberalen libanesischen „Al-Nahar“, „das Opfer der Kinder von Qana“ habe „die Chancen für einen Waffenstillstand verbessert“, bestätigt aber auch, wie politisch real die Macht der Fernsehbilder sein kann. Insbesondere in Kriegen.
Die von libanesischen Medien ebenso wie von großen internationalen Nachrichtenagenturen und Rundfunksendern noch Tage nach dem Massentod auf über fünfzig angegebene Opferzahl bestimmte in der Folge die Debatte. Journalistische Ethik im Krieg – und ihre Missachtung zugunsten der einen oder anderen Partei, ein unerschöpfliches Thema.
Libanons Premierminister Fuad Siniora gab den Kritikern der libanesischen Medienpolitik weiteren Stoff, als er gut eine Woche nach dem Massentod von Qana den Beschuss eines Wohnhauses in der libanesischen Gemeinde Houla als „Massaker“ bezeichnet und Israel des „Staatsterrorismus“ bezichtigte. Bis zu vierzig Tote befänden sich unter den Trümmern, erklärte Siniora noch zum Auftakt eines Sondergipfels der Arabischen Liga in Beirut. Am Nachmittag, zum Abschluss der Tagung, musste er sich korrigieren: Lediglich ein Mensch sei bei dem israelischen Beschuss ums Leben gekommen.
Das allerdings hatten libanesische Medien schon am Vormittag gemeldet. Nicht so sehr der Zugang zu Sicherheitskräften und Angriffszielen stellte daher das Problem bei der Berichterstattung dar, sondern die oft schwere Überprüfbarkeit angeblich offizieller Angaben. Sei es bei den Opferzahlen, bei der Anzahl von Flüchtlingen oder beim Ausmaß der Versorgungsnot.

Mitunter fehlende Sorgfalt

Bisweilen gepaart mit fehlender journalistischer Sorgfalt: So berichtete der niederländische Reporter Hans-Jaap Melissen nach einem langen Gespräch mit dem Krankenhausdirektor von Qana schon am Abend des 30. Juli die korrekte Zahl der Umgekommenen. CNN, BBC und Nachrichtenagenturen wie AP, Reuters und dpa korrigierten die von ihnen ausgegebenen Zahlen aber erst Tage später nach unten – nach Veröffentlichung eines Human Rights Watch-Reports, der sich auf Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes stützte.
Steine in den Weg zu einer gründlichen Recherche legten Reportern darüber hinaus die Medienvertreter der Hisbollah. So verhinderten sie vor allem in den am heftigsten von den israelischen Luft-, Land- und Marineangriffen betroffenen südlibanesischen Gebieten den Zugang zu ihren militärischen Stellungen. Bilder bewaffneter Hisbollah-Milizionäre waren lediglich in den Werbespots des Hisbollah-TV-Senders „Al-Manar“ zu sehen. Und auch nach Kriegsende zeigen die überall im Land aufgestellten Triumphplakate Kämpfer nur von hinten. Um so medienfreundlicher war das Hisbollah-PR-Personal beim Präsentieren der israelischen Angriffsziele. Vor allem in den ersten beiden Kriegswochen wurden Journalisten zu Dutzenden durch die zerstörten Viertel der südlichen Beiruter Vorstadt, Dahiyye, geführt, um die Bilder von der Gegend um das einstige Hauptquartier der „Partei Gottes“ und ihres Senders „Al-Manar“ in alle Welt zu senden. Dass dabei immer wieder dieselben zerstörten Straßenzüge gezeigt wurden, nahmen die internationalen Berichterstatter getrost in Kauf.
Die Hisbollah-Pressesprecher ebenso wie „Green Helmet“ als Sündenböcke für die eigenen Versäumnisse? So sieht es jedenfalls der „stern“, der Salam Daher unter dem Titel „Propaganda-Opfer“ im August zu rehabilitieren versuchte: „Es ist lächerlich“, zitierte das Hamburger Magazin den Mann, der aus seinem Wohnort Marjajoun bis nach Qana kam, um bei der Leichenbergung zu helfen – dabei jedoch immer wieder von Medienvertretern gestört wurde. „Überall waren Fotografen, man konnte kaum richtig arbeiten“, sagte Daher. „Einmal habe ich ein Kind hochgehalten, damit alle ein Bild machen konnten – aber doch nur, damit ich danach Ruhe hatte, um weiter nach Überlebenden zu suchen!“

Markus Bickel, Beirut
nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Preis für behinderte Medienschaffende

Zum zweiten Mal schreibt in diesem Jahr die gewerkschaftsnahe Otto Brenner Stiftung zwei Preise und Stipendien für Journalist*innen mit Behinderung aus. Damit soll „ein klares Signal für die Förderung von Diversität als unverzichtbaren Wert in unserer demokratischen Gesellschaft“ gesetzt werden, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Stiftung. 
mehr »

Italien: Neun Jahre Haft für Recherche?

Drei Reporter*innen der italienischen Tageszeitung Domani müssen mit bis zu neun Jahren Gefängnis rechnen. Die Staatsanwaltschaft Perugia ermittelt gegen sie, weil sie vertrauliche Dokumente von einem Beamten angefordert und erhalten und das Geheimhaltungsprinzip der Ermittlungen verletzt haben sollen. Die dju-Bundesvorsitzende Tina Groll kritisierte, dass „hier investigative Berichterstattung über Mitglieder der italienischen Regierung unterdrückt werden soll."
mehr »

KI darf keine KI-Texte nutzen

Die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der KI im eigenen Metier wird Journalist*innen noch lange weiter beschäftigen. Bei der jüngsten ver.di-KI-Online-Veranstaltung ging es um den Anspruch an Gute Arbeit und Qualität. ver.di hat zum Einsatz von KI Positionen und ethische Leitlinien entwickelt. Bettina Hesse, Referentin für Medienpolitik, stellte das Papier vor, das die Bundesfachgruppe Medien, Journalismus und Film zum Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz im Journalismus erarbeitet hat.
mehr »

RSF: Vertrauen Sie der freien Presse!

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wählt in diesem Jahr ein neues Staatsoberhaupt oder eine neue Regierung, Regional- oder Kommunalpolitiker. Gleichzeitig begeht die deutsche Sektion von Reporter ohne Grenzen (RSF) ihr 30-jähriges Bestehen. Grund genug für die Kampagne „Erste Worte“. Unterschiedliche Menschen hören Auszüge aus den Antrittsreden ihrer Präsidenten: Wladimir Putin aus dem Jahr 2000, Nicolás Maduro aus dem Jahr 2013 und Recep Tayyip Erdogan 2014.
mehr »