Medienpraktiker und Wissenschaftler debattierten zum Thema: Recherche – Handwerk, Kunst und Notwendigkeit
Nur etwa ein Zehntel des Eisbergs liegt sichtbar über der Wasseroberfläche. Wer die restlichen neun Zehntel sehen und erforschen will, muss in die Tiefe. So Bild und Motto des 24. Journalistentages von dju und Fachgruppe Medien in ver.di. Das Thema „In die Tiefe! Recherche: Handwerk – Kunst – Notwendigkeit“ sorgte für einen Anmelderekord.
Rund 240 Teilnehmerinnen und Teilnehmer trafen sich am 27. November in Berlin, um über materielle Bedingungen und professionelle Voraussetzungen eines „barrierefreien Rechercheklimas“ zu debattieren, wie es einer der Referenten forderte.
Dass gründliche Recherche ein Qualitätsmerkmal professionellen Journalismus sei und diese Qualität ihren Preis habe, machte der stellvertretende ver.di-Vorsitzende Frank Werneke gleich zur Begrüßung klar. Die Forderung nach fairer Bezahlung für freie Journalistinnen und Journalisten werde mit der Kampagne „Fair Pay“ bekräftigt. Zur Durchsetzung der seit Anfang des Jahres geltenden, aber weitgehend missachteten Mindestvergütungen solle auch ein Spitzengespräch der Gewerkschaften mit dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger genutzt werden. Mit der Forderung nach guten Arbeits- und Vergütungsbedingungen für Festangestellte gehe ver.di in die aktuellen Tarifrunden für Redakteurinnen und Redakteure an Tageszeitungen und Zeitschriften. Die Verleger jedoch verhandelten im Zeitungsbereich erklärtermaßen nach dem Motto: Alle müssen sich daran gewöhnen, für weniger Geld mehr zu arbeiten. Sie forderten Kürzungen beim Urlaubsgeld per Direktionsrecht und die Einführung eines verschlechterten „Tarifwerkes 2“ für alle künftig einzustellenden Redakteurinnen und Redakteure. Abgesehen davon, dass solche Vorhaben die „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ und Entsolidarisierung in den Redaktionen begründen würden, bedrohten sie auch alle bereits Beschäftigten bei einem Arbeitsplatzwechsel.
Trotz unstrittigen Auflagen- und Anzeigenrückgangs „verdienen die Verlage und können sich auf dem veränderten Markt behaupten“, verdeutlichte Werneke. Dazu hätte neben Rationalisierung und Arbeitsverdichtung auch Tarifverzicht der Beschäftigten beigetragen. „Jetzt ist Schluss mit dem Rückbau“, erklärte der ver.di-Vize und bezeichnete die Arbeitgeberforderungen als „nicht nur inakzeptabel, sondern frech“. Er warb unter den Kollegen um „Bereitschaft und Mut“, sich im Rahmen der Tarifrunden „an Protestaktionen und Warnstreiks zu beteiligen“.
Leichen, in Papier gewickelt?
Auf die „Doppelbödigkeit“ des Mottos „In die Tiefe!“ machte Hans Leyendecker, Redaktion Investigative Recherche der „Süddeutschen Zeitung“, in seinem Hauptreferat aufmerksam. Es ginge sowohl „um Tiefgang im Journalismus“ als auch um die Frage, „wann der Boden erreicht ist“. Auf die provokante Frage „Wer kauft Leichen, vor allem, wenn sie in Papier eingewickelt sind?“, gab er eine für die Zeitungsbranche optimistische Antwort: Dank 353 Verlagen mit Vollredaktionen und rund 1.500 Lokalredaktionen seien die Printmedien hierzulande auch im internationalen Vergleich „sehr lebendig“. Zwar habe die ökonomische Krise die Bedingungen für gründliche journalistische Recherche „nicht verbessert“, doch machte Leyendecker Gefahren für das journalistische Handwerk eher dort aus, wo „lediglich Vorurteile des Publikums bestätigt, Themen und Sendungen von den Redaktionen nur verwaltet“ würden und Journalisten für ihren Beruf nicht brennen.
Gefahren lauerten auch, wenn Qualität auf dem Altar des Anzeigen- und Werbegeschäfts geopfert, Journalismus mit PR und Wirtschaft verquickt würden und man Journalisten zu „Büchsenspannern und Handlangern von Lobbyisten“ verkommen lasse. Zudem warnte er vor einer Gleichsetzung „normaler, gründlicher“ mit investigativer Recherche. Es seien in letzter Zeit in vielen Redaktionen Investigativressorts entstanden, doch allein durch einen „Verfolgerjournalismus“, der Leute anprangere, um Exklusivgeschichten zu erhaschen, durch die Haltung, „wir sind alle Jäger“, werde investigativer Anspruch nicht erfüllt. „Den eigenen Ergebnissen misstrauen, Fakten bewerten und jede Quelle mehrmals auf ihre Glaubwürdigkeit prüfen“, gehöre prinzipiell zum Recherchejournalismus. Dabei könne es auch darum gehen, Missstände in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aufzudecken. Bei investigativem Journalismus müssten durch die Recherche „bisher unbekannte Sachverhalte von politischer oder wirtschaftlicher Bedeutung öffentlich werden“. Das erfordere „beharrliches Dranbleiben, eine unabhängige, kritische Art, Themen zu setzen“. Es gelte, „den Leser im Blick zu haben, ohne sich von ihm korrumpieren zu lassen“.
In Zeiten beträchtlicher Arbeitsbeschleunigung könnten Quantität und Qualität journalistischer Arbeit leicht in Widerspruch geraten. Auch durch neue Verbreitungswege wie Online-Journalismus oder innerredaktionelle Strukturen mit Newsdesks, die eine „Gefahr des fabrikmäßig produzierten Journalismus“ bergen, laufe praktisch „vieles schief“, meinte Leyendecker. Zugleich böten solche Entwicklungen Chancen: Inhalt und Texte von Tageszeitungen müssten sich verändern. Doch sollten sie dem Leser interessante Stoffe bieten, „Informationen destillieren, konzentrieren und auswerten“. Sie müssten sich als „Wegweiser im Wirrwarr“ qualifizieren, „Gebrauchsanweisungen für das digitale Diesseits liefern und den Schlüssel zum Verstehen der lokalen und der globalisierten Welt“.
Derartiges – egal, wie lange Zeitungen noch als gedrucktes Medium erscheinen – verlange von Journalisten, „dass sie sich quälen, das Beste leisten“ und verlange von Verlegern, „dass sie die Journalisten in die Lage versetzen, dieses Beste leisten zu können“.
Alles andere als anonym
Was versteckt sich hinter Datenbanken und Webseiten, wie sind glaubwürdige Informationen zu finden, wie transparent sind User und ihre Recherchen im Web 2.0 nachzuvollziehen? Dr. Gabriele Hooffacker von der Münchner Medienakademie offerierte in einer Kurzvorlesung Tipps zur journalistischen Recherche 2.0: „Erst mal Google fragen ist o.k., nur Google fragen, reicht nicht.“ Am Beispiel des Webportals www.recherche-mitte.com demaskierte sie über verschiedene Rechercheschritte die zunächst unverfänglich daherkommende Gruppe als eine dem rechtsextremen Spektrum zugehörende. Metasuchmaschinen zu nutzen, Links bei Wikipedia zu folgen, Quellen auf Glaubwürdigkeit zu prüfen und in die Versionsgeschichte zu schauen, sei Bestandteil gründlicher Recherche. Auch in sozialen Netzwerken, bei Facebook und Twitter, Personen und „Followers“ zu checken, sollte dazugehören. Um selbst keine nachzuverfolgende Recherchespur zu legen – „man sollte sich dessen bewusst sein, was man im Netz über sich verrät und sich überlegen, welche Beziehungen man öffentlich macht“ – könnten Journalisten beispielsweise Anonymisierungsdienste wie TOR (The Onion Routing) nutzen. Nach dem „Zwiebelschalenprinzip“ werden Daten über wechselnde Router an ihr Ziel transportiert, der TOR-Nutzer bleibt anonym. Dennoch helfe – so Hooffacker – die 2.0-Recherche nur indirekt: Die Bedeutung der Informationen zu werten, sie durch offline-Quellen zu ergänzen und zu entscheiden, wie sie zu verarbeiten sind, diese Verantwortung bleibe immer noch beim Journalisten.