Instant-Politik auf dem Vormarsch

Ursula von der Leyen, Katja Kipping, Andreas Scheuer, Jürgen Trittin, Heiko Maas, Katja Suding (v.l.n.r.) in der ZDF-Sendung "Wie geht's, Deutschland?"
Foto: ZDF/Jule Roehr

Immer wieder hört man in diesen Tagen: So langweilig wie der Bundestagswahlkampf 2017 war noch nie einer. Vermutlich lässt sich die geringe Begeisterung darauf zurückführen, dass nach allen Umfragen die Entscheidung über die Kanzlerschaft seit Monaten gefallen zu sein scheint. Nicht nur die Kandidat_innen schwächelten. Auch bei den Medien gab es weniger Licht als Schatten.

Die TV-Debatten

Dies sei ein „bewährtes Format“! Mit dieser Begründung hatte Angela Merkel bekanntlich jede Erweiterung und Veränderung des Setting beim „Kanzler-Duell“ abgeblockt. Und die Anstalten kuschten. Am Ende kam ein Duett dabei heraus, das in dieser Form verzichtbar ist. Alle für arbeitende Menschen interessanten Themenfelder wurden konsequent ausgespart. Immerhin:  Bei der jüngsten ARD-Intendantenkonferenz sollen die Hierarchen ein Einsehen gehabt haben – eine dermaßen öde Veranstaltung dürfe es nie wieder geben. Bitte zur Wiedervorlage anno 2021!

Ganz ohne die Erörterung sozialer Themen kam der TV-Wahlkampf natürlich nicht aus. So rückte etwa beim Sat.1-Polit-Talk „Die 10 wichtigsten Fragen der Deutschen“ kurzzeitig der Pflegenotstand in den Fokus. Leider nur, bis der Liberalen-Schönling Christian Lindner die als Betroffene geladene ver.di-Kollegin und Intensiv-Krankenschwester Dana Lützkendorf per Twitter als Linken-„Funktionärin“ outete. Von da an spielte die verhandelte Sache keine Rolle mehr. Wohl aber erhob sich im Netz ein veritabler Shitstorm gegen die Kollegin, die von der Redaktion zuvor allerdings nicht – wieso auch? – nach ihrer Parteimitgliedschaft gefragt worden war. Gefundenes Fressen für die AfD und ihre pöbelnden Sympathisanten. Dass aber ausgerechnet die Sat.1-Redaktion samt Moderator Claus Strunz von einem „AfD-Journal für Medienkritik und Gegenöffentlichkeit“ der Inszenierung einer „tendenziösen, politisch schamlos beeinflussten Show“ bezichtigt wurde, erscheint denn doch reichlich abwegig. Derselbe Strunz, der beim sogenannten „Kanzler-Duell“ gewirkt hatte wie ein Abgesandter der Gauland-Meuthen-Weidel-Fraktion!

Übrigens kein Einzelfall: Auch im öffentlich-rechtlichen „Hart aber fair“ schaffte es Frank Plasberg in Anwesenheit von CSU-Herrmann und AfD-Weidel spielend, die Unterschiede zwischen rechter Stimmungsmache und seriösem Journalismus zu verwischen.  Und nicht nur er. „Sind Zuwanderer krimineller als Deutsche, als Bio-Deutsche?“ Eine Frage, die Maybrit Illner unlängst in ihrem Talk an Beatrix von Storch richtete. Wie urteilte der Politikberater Johannes Hillje treffend: „Allein mit ihrer Sprache verschiebt die AfD den Diskurs schon nach rechts.“

Social Media

Erfolgreich sind die Populisten auch im Netz. Von Trump lernen heißt siegen lernen? Scheint so. Eine aktuelle Untersuchung sieht die AfD unter allen Parteien mit 30 Prozent der Tweets, die sich um die Bundestagswahl drehen, weit vorn. Abgeschlagen folgen CDU/CSU  mit gut 18 Prozent, alle anderen unter „ferner liefen“. Auch die Grünen, obwohl die mittlerweile die Hälfte ihres Wahlkampfbudgets in Online-Aktivitäten stecken. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet das Klinkenputzen, der Haustür-Wahl-Nahkampf erlebt parteiübergreifend eine Renaissance. Nicht trotz Digitalisierung, sondern gerade mit Hilfe digitaler Tools, genauer: der datengestützten Sympathisanten-Fahndung per Smartphone. Veteranen, die anno 1983 beim Volkszählungsboykott dabei waren, dürften darob erschauern.

Wahlprüfsteine

Ein Wahlsieger steht jedenfalls schon fest: Die Bundeszentrale für politische Bildung mit ihrem digitalen Entscheidungshelfer Wahl-O-Mat. 50 Medienpartnerschaften – ein neuer Rekord, da muss niemand mehr pfundschwere Programme lesen. Schade eigentlich. Der Trend zur Instant-Politik marschiert. Und sowohl Parteien als auch Medien machen bereitwillig mit. Der ARD-„Politiker-Check“ handelte mit seinen Gästen hochkomplexe Sujets im Stile eines atemlosen Speed-Datings ab. Altersarmut, Elektroauto, Türkei – wer auf solche Fragen Aufklärung in 15-Sekunden-Statements erwartet, hat in Wahrheit kein echtes Erkenntnisinteresse. Boulevard statt Politik.

Wahlen im Kapitalismus – eine Dienstleistung wie andere auch? Bei der SPD kann man sich über eine simple Ja/Nein-Abfrage sein „personalisiertes Wahlprogramm“ ausstellen lassen. Mein Selbstversuch ergab, unter anderem: „Den Spitzensteuersatz zahlen nur die, die auch spitze verdienen.“ Und: „Mit uns gibt es keine Rente ab 70.“ Ist das jetzt gut oder schlecht für mich? In der FAZ, dem Zentralorgan des Kapitals, läuft das Ganze mittels „interaktivem Steuerrechner“ gleich zugespitzt auf die Frage, „welche Partei gut für ihren Geldbeutel ist“. Politik werde immer mehr „zur Ware degradiert und Parteilinien zum Produkt“, resümiert Peter Breuer in seiner Kolumne „Wechselwähler“. Da ist wohl was dran.

Im wohltuenden Kontrast dazu die Wahlprüfsteine von Reporter ohne Grenzen. Zehn aktuelle Fragen zur Pressefreiheit, vom politischen Asyl für verfolgte Journalisten über die Situation der Medien in Polen/Ungarn bis hin zur Regulierung von Exporten digitaler Überwachungstechnologien. Eine Pflichtlektüre für jeden engagierten Journalisten. Einige Partei-Antworten geben allerdings arg zu denken. Wenn etwa der CDU/CSU zum Kapitel Whistleblowerschutz nur einfällt, „‘fake news‘ sowie denunziatorische Gerüchte oder ähnlich ungesicherte Erkenntnisse und verleumderische Spekulationen“ seien „nicht schutzbedürftig“. Edward Snowden, hilf!

Demokratie und Kommerz

Der Madsack-Konzern vertraut auf den mündigen Bürger. Deshalb hatte er keine Bedenken, den Lesern seiner Zeitungen eine mehrseitige Werbebeilage der AfD zuzumuten. Das fand die SPD als größter Madsack-Gesellschafter nicht so gut. Eine zunächst geplante Gegenanzeige wurde jedoch wieder storniert. Dafür publizierte die Madsack-Geschäftsleitung („Es geht nicht ums Geld“) eine Erklärung „in eigener Sache“. Erster Satz: „Die Meinungsfreiheit ist eine Grundlage unserer Demokratie…“  Dass es auch anders geht, bewies ausgerechnet Google. Dem Vernehmen nach weigert sich der Konzern, bestimmte Anti-Merkel-Anzeigen der AfD zu schalten. Manchmal kommt es eben auf die Haltung an.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Putins Geiseln

In Russland wurden Mitte Juli zwei westliche Journalist*innen aufgrund fingierter Anschuldigungen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Westliche Regierungen werden nun einen zynischen Deal mit dem Kreml eingehen müssen, um Evan Gershkovich und Alsu Kurmasheva freizubekommen. Doch gleichzeitig sollten sie klar machen, dass sie Putins „Verständnis“ von Journalismus nicht teilen.
mehr »

Recherchen für die Demokratie

Die Uhr tickt – politisch und ökologisch. „Der Ton wird rauer, die Angriffe intensiver“, so NDR-Intendant Joachim Knuth im Begrüßungsgespräch mit Daniel Drepper, dem Vorsitzenden der Journalist*innenvereinigung Netzwerk Recherche (NR), die ihre Jahreskonferenz unter das Motto stellte: „Now is the time. Recherchen für die Demokratie“. Etwa 900 Teilnehmende trafen sich beim NDR Fernsehen in Hamburg zu Austausch und Debatte über die Rolle der Medien in Zeiten des politischen Rechtsrucks und der Klimakrise. 
mehr »

Reformstaatsvertrag: Zweifel am Zeitplan

Der Medienrechtler Dieter Dörr bezweifelt, dass es den Bundesländern gelingt, sich gemäß ihrer Planungen bis Ende Oktober auf einen Reformstaatsvertrag zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verständigen. Er halte „diesen Zeitplan, um es vorsichtig auszudrücken, für ausgesprochen optimistisch“, sagte Dörr auf M-Anfrage. Nach dem bisherigen Fahrplan sollte der Reformstaatsvertrag dann bei der Ministerpräsidentenkonferenz im Dezember 2024 unterzeichnet werden.
mehr »

Reform oder Abrissbirne im Hörfunk

Die Hängepartie um Finanzierung und Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) geht weiter. Nach wie vor sträuben sich ein halbes Dutzend Ministerpräsidenten, der Empfehlung der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) für eine Beitragserhöhung um 58 Cent auf 18,94 Euro zu folgen. Bis Oktober wollen die Länder einen Reformstaatsvertrag vorlegen, um künftig über Sparmaßnahmen Beitragsstabilität zu erreichen. Einzelne ARD-Sender streichen bereits jetzt schon ihre Hörfunkprogramme zusammen.
mehr »