iTunes für Journalismus

M im Gespräch mit Michael Jarjour, Redaktionsleiter des digitalen Zeitungskiosks Blendle Deutschland

Vor zwei Jahren startete im niederländischen Utrecht das Start Up Blendle, eine Nachrichtenplattform, bei der Nutzer_innen für einzelne Artikel zahlen. Im September 2015 expandierte das Unternehmen nach Deutschland. Michael Jarjour ist Redaktionsleiter der fünfköpfigen Redaktion, die täglich auch einen Newsletter über die Medien verschickt, den bei Blendle lesen kann. M sprach mit Jarjour über die bisherigen Erfahrungen.

Michael Jarjour, Redaktionsleiter des digitalen Zeitungskiosks Blendle Deutschland Foto: Mindy Best

M | Wie fällt nach einem knappen halben Jahr Blendle Deutschland Ihre Zwischenbilanz aus?

Michael Jarjour |Ich bin super happy mit dem Start in Deutschland. Es ist sehr aufregend zu sehen, wie gut Blendle hier aufgenommen wird und wie es langsam zur Normalität wird, auch online für den besten Journalismus zu bezahlen.

Die Blendle-Gründer nennen das Geschäftsmodell „iTunes für Journalismus“. Die Verlage selbst waren mit ihren Versuchen, Journalismus im Netz zu vermarkten, nicht sonderlich erfolgreich. Ist Ihr Modell für die Verlage die Lösung?

Ich will das gerne mit folgendem Szenario illustrieren: Sie klicken auf Twitter auf einen Link zu einem Artikel einer, sagen wir, amerikanischen Zeitung, dem „Wall Street Journal“ etwa. Sie möchten also diesen Artikel lesen. Da kann man doch von Ihnen nicht verlangen, dass sie gleich ein Abo abschließen, nur um dieses eine Stück zu lesen. Man kann aber genau so wenig von der Zeitung erwarten, dass sie den Artikel kostenlos hergibt. Weil das die neue Normalität ist, wie man spannende Artikel entdeckt, glaube ich fest daran, dass Einzelverkäufe eine der Arten ist, mit denen Journalismus in Zukunft finanziert wird.

Wie viele Nutzer_innen haben Sie?

Blendle hat über 650.000 Nutzerinnen und Nutzer.

Wie sieht das Profil dieser Nutzer_innen aus?

Über die Hälfte unserer Nutzerinnen und Nutzer sind unter 35 Jahre alt. Viele von ihnen geben erstmals Geld für Journalismus aus.

Bei Blendle bezahlt man pro Einzelstück. Wie sieht die Preisstruktur im Vergleich aus? Was kostet wenig, und was glauben Verlage den Nutzern maximal zumuten zu können?

Nicht alle Artikel kosten gleich viel auf Blendle. Tendenziell sind amerikanische Angebote günstiger – ein Artikel der New York Times kostet etwa 19 Cent, während ein Artikel aus der Welt 25 Cent kostet und einer vom Tagesspiegel 45 Cent.

Sie operieren nach dem Muster „Bei Nichtgefallen Geld zurück“ – Wie hoch ist die Rückgabequote?

Die Rückgabequote liegt bei etwas unter 10 Prozent.

Was lesen Sie aus dieser Quote ab?

Für mich und mein Journalistenteam ist die Rückgabequote und sind die entsprechenden Rückgabegründe ein wichtiger Indikator für die Qualität einer Geschichte. Wenn jemand einen Artikel liest, und dann, obwohl er oder sie könnte, sein Geld nicht zurückverlangt, werten wir das als echte Wertschätzung für das Stück. Einer der tiefsten Rückgabequoten hatte etwa eine Geschichte über ein junges IT-Genie, das die Finanzwelt umkrempelt. Das war ein großartiges, langes, lehrreiches Porträt. Nur etwas über 2 Prozent wollten den Artikel zurückgeben.

Gewöhnlich heißt es, die digital-native-Generation sei durch die langjährige Kostenlos-Kultur der Verlage für immer für Paid Content verloren. Was motiviert gerade jüngere Leute, im Netz für Journalismus Geld auszugeben?

Da tut man der jungen Generation vielleicht etwas unrecht. Es ist ja nicht so, als würde man ihnen gute Möglichkeiten geben, für Journalismus zu bezahlen. Kürzlich hat einer unserer Nutzer getweetet, auf Blendle hätte er endlich für Journalismus bezahlen können, ohne dass er vorher seine Blutgruppe hätte angeben müssen. Das ist natürlich übertrieben. Aber es illustriert, wie umständlich es ist, für Journalismus im Netz zu bezahlen. Es ist einfach so, dass die meisten Paywalls unglaublich fürchterlich sind. Da muss man seine Postleitzahl angeben, seine Adresse, sein Geburtsdatum und was weiß ich noch was. Blendle hingegen hat einen sehr, sehr schnellen, hübschen Anmeldeprozess.

Welche Stücke laufen am besten? Beispiele aus jüngerer Zeit…

Da fällt mir spontan „Wer ist der arabische Mann?“ von Bernd Ulrich ein. Der Artikel ist in der „Zeit“ erschienen, und ging so schnell viral auf Blendle wie noch kein Artikel zuvor. Eine ausführliche, kluge und unaufgeregte Analyse nach den Ereignissen von Köln. Er vereint zwei Dinge, die Artikel auf Blendle erfolgreich machen: Relevanz und Exzellenz. Mehr Beispiele: Ein recht vernichtendes Porträt von Björn Höcke, dem AfD-Mann, aus dem Focus ist sehr gut gelesen worden, ein sehr ausführliches Interview mit Peter Sloterdijk aus dem Cicero, und ein wunderbares Interview zu den Risiken des Alltags mit David Spiegelhalter, einem Cambridge-Forscher.

Sie entscheiden darüber, welche Stücke in Ihrem digitalen Kiosk angeboten werden. Nach welchen Kriterien?

Blendle trifft keine Auswahl. Alle Artikel aus den teilnehmenden Zeitschriften und Zeitungen sind auf Blendle verfügbar. Wir verschicken jedoch täglich eine Auswahl an Artikeln in einer kurzen E-Mail an unsere Nutzer. Hier achten wir auf Relevanz und Exzellenz, also die besten Artikel zu den wichtigsten Themen.

Normalerweise legen die Verlage Wert auf Kontrolle Ihrer Marke, auf den direkten Kunden bzw. Leserkontakt. Wie zerstreuen Sie diese Furcht vor einer Marken“verwässerung“?

Es gibt diese Furcht nicht wirklich. Ich höre diese Sorge einzig von Medienjournalisten, nicht von Verlegern. Die wissen, dass Blendle einzig ein digitaler Kiosk ist, und die Gefahr von Verwässerung der Marke genau so groß ist wie bei einem Offline-Kiosk: nicht vorhanden. Nur auf Blendle erscheinen Artikel im Design und Layout der Zeitung und Zeitschrift. Wenn man einen Artikel öffnet, verschwindet das Blendle-Logo sogar vollständig. Sichtbar bleibt nur das Logo der Publikation.

Was bedeutet der Erfolg Ihres Modells tendenziell für den Journalismus? Tragen Sie nicht letztlich dazu bei, dass sich künftig nur noch gut verkaufbare Einzelstücke vermarkten lassen, das Gesamtprodukt Zeitung oder Zeitschrift jedoch weiter geschwächt wird?

Auf Blendle kann man komplette Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften kaufen. Im „Kiosk“-Bereich der Seite kann man Ausgaben in einer PDF-Ansicht anschauen und einzelne Artikel optimiert für Smartphones lesen. Das wird rege genutzt, und zeigt wie stark Menschen die Auswahl von Journalistinnen und Journalisten schätzen. Gerade im Zeitalter der Überinformation ist eine hilfreiche Vorauswahl ein Verkaufsargument.

Skeptiker argumentieren, es könne sich künftig eine fatale Schlagseite im Nutzungsverhalten ergeben: „Häppchen-Journalismus für die Hashtag-Generation, Infotainment statt facettenreicher Publizistik“? Oder dass die Konzentration auf Massentaugliches Abseitiges und Nischenthemen verdrängt?

Gerade für Nischenthemen bietet das Internet eine gigantische Chance. Blendle hilft, Themen diesen Nischen auf einfache und schöne Art und Weise zugänglich zu machen. Daher verstehe ich diese Sorge nicht und halte sie für Kulturpessimismus, der mir widerstrebt.

Welche Rolle spielen bei Ihrem Modell die sozialen Netzwerke, als Diskussions- und Empfehlungsplattform, aber auch als Marketinginstrument für Sie selbst?

Soziale Netzwerke sind für Blendle, wie für alle anderen Medienunternehmen, eine große Chance. Blendle-Links bieten Nutzern endlich eine gute Möglichkeit, Print-Inhalte auf sozialen Netzwerken zu teilen, ohne ihren Freunden und Followern eine frustrierende Paywall zumuten zu müssen.

Welche Zukunftsprojekte hat Blendle? Es heißt, Sie wollen demnächst auch in die USA expandieren?

Stimmt, Blendle wird schon bald mit einer Beta-Version in den USA starten! Das ist das größte und wichtigste Projekt im Moment. Aber auch in Deutschland und Holland gibt es noch viel zu tun. Bald werden wir unsere täglichen Empfehlungen per E-Mail personalisieren, so erhalten Hunderttausende Nutzerinnen und Nutzer von Blendle eine eigens für sie zusammen gestellte E-Mail mit Empfehlungen von unserem Redaktionsteam. Das ist eines unserer spannendsten Projekte derzeit.

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