Bereits bei den Themen einen konstruktiven Fokus setzen
Keine Lösung ohne Problem: Wie funktioniert konstruktiver Journalismus in der Praxis?“ war Thema der abschließenden Podiumsdebatte mit vier Protagonist*innen, die eigene Erfahrungen und mediale Best-Practice-Beispiele vermittelten. Dass auch bei ihnen nicht alle Blütenträume reifen, bekannten sie freimütig. „Man versucht vieles, manches funktioniert nicht, da ist Scheitern immanent“, erklärte Chris Vielhaus, Redakteur beim Onlinemagazin „Perspective Daily“. Steffen Bayer, einer der Gründer der lösungsorientierten ZDF-Reihe „Plan B“, gestand, dass die Redaktion es nach ein bis zwei Jahren aufwändiger Recherche aufgegeben habe, danach zu forschen, wie die Deutsche Bahn tatsächlich gut funktionieren könne. Und Dr. Ute Scheub, als „taz“-Mitgründerin und renommierte Klimajournalistin eine Pionierin kritisch-konstruktiven Journalismus, wartet noch immer auf die Verwirklichung ihres Traums, den Börsenbericht vor der abendlichen „Tagesschau“ durch eine kurze, positive Nachricht zu ersetzen. Dabei „wäre es so nötig, um die Stimmung im Land verändern zu können“.
Zusammen mit Alexandra Haderlein, Gründerin von „Relevanzreporter“ – das Start-up betreibt konstruktiven Community-Journalismus im Lokalen – und Moderatorin Miriam Scharlibbe, Chefredakteurin für Content und Entwicklung beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag sh:z, forschte das Podium zunächst nach überzeugender Rechtfertigung für das eigene journalistische Konzept. Aus der Nutzerperspektive sei es nötig, „Bedürfnisse zu befriedigen“, nachdem die klassische Lokalzeitung durch Schrumpfen und Sparen „nicht mehr das ist, was sie mal war“, erklärte Haderlein. Scheub hielt Klimaberichterstattung ohne konstruktive Komponente heutzutage für „gar nicht mehr möglich“, sofern man nicht Abwehr oder Depressionen beim Publikum erzeugen wolle. Es mangele zudem nicht an ökologischen Lösungen, vielmehr „fehlt ihre Umsetzung durch die Politik“. Auch Vielhaus sah das Problem, dass Politik und Interessengruppen aus der Industrie vorhandene Stellschrauben nicht nutzten. Es sei dringlich, „Machtstrukturen aufzudecken und mit journalistischer Wächterfunktion zu entlarven“, um Wege „raus aus der politischen Blockade“ zu zeigen.
„Konstruktiver Journalismus erzählt die gesamte Geschichte“, postulierte Bayer. Es sei kein „Wohlfühljournalismus“, er schließe harte, investigative Recherche sehr wohl ein. Der Aufwand, „gleichzeitig über Lösungen zu berichten“, werde oft unterschätzt. Gelte es doch, nicht nur die klassischen W-Fragen zu beantworten, sondern tiefer zu bohren: Wo liegen Kritikpunkte? Wer kann das bestätigen? Wer hat schon Lösungen? Was macht das Ausland?
Vor allem viel Arbeit
„Eine fette Recherche pro Woche“ versprechen die Nürnberger „Relevanzreporter“ – 26 Leute, darunter viele Freiberufler – ihren Rezipienten. Man habe sich komplett losgesagt vom „Hechel-hechel-Terminjournalismus“, wolle die Stadt gar nicht in ihrer ganzen Breite abbilden, sondern über Themen berichten, „die morgen noch relevant sind“. Leser*innen sollten Erklärungen erhalten und Orientierung. Gleichzeitig sei transparent zu machen, wie lange solche Recherchen dauern. So, meint Alexandra Haderlein, könne man „auch Vertrauen in die Medien zurückholen“. Den Faktor Zeit sah Steffen Bayer als „stärksten Druck“. Nicht nur zu vermelden, sondern eben auch Lösungen vorzustellen, erfordere oft großen Aufwand, solche Ansätze zu finden, zu prüfen, ob sie wirklich Zukunftspotenzial böten, wissenschaftlich untermauert und erfolgversprechend seien. „Guter konstruktiver Journalismus macht vor allem viel Arbeit und fordert, Stoffe anders zu denken“, so der Fernsehmann. Es sei ein Privileg, das beim ZDF ohne ständigen finanziellen Druck machen zu können.
Bei „Perspective Daily“ etwa sehe das anders aus. Chris Vielhaus berichtet von einer notwendigen Rettungsaktion des communitybasierten Mediums im Vorjahr, bei der es gelang, 2000 neue Mitglieder zu gewinnen und Gutscheine zu vertreiben. Da das Medium auf zahlende Mitglieder setze und kein Geld durch Werbung einspiele, müssten Redakteur*innen oft Social-Media-Betreuung und Marketingaufgaben mit übernehmen, was die Arbeitsbelastung erhöhe. Idealerweise biete das Ziel, einen konstruktiven Artikel pro Tag zu veröffentlichen, den zehn Redakteur*innen jedoch etwa zwei Wochen Zeit, sich in ein Thema zu vertiefen.
Gemeinnützig wollen sich künftig auch die „Relevanzreporter“ finanzieren, die bislang von Crowdfunding und der Anschubfinanzierung durch eine Stiftung leben, aber verstärkt auf ein „klassisches Abo-Modell“ setzen, von dem sich laut Haderlein „abzeichnet, dass es funktioniert“. Eine Lanze brachen Podiumsgäste nicht nur für ein junges, sondern auch für ihr ältere Publikum. „Plan B“-Zuschauer seien im Durchschnitt 68 Jahre alt, so Bayer. Vielhaus vermittelte die Erfahrung, dass „eher Ältere“ bereit und in der Lage seien, für guten Journalismus etwas zu zahlen. Doch sei es angesichts multipler Krisen in der Gegenwart nötig, „alle Generationen mitzunehmen, ohne Angst davor zu haben“, hieß es in der späteren Aussprache.
Vom Gelingen erzählen
„Gemeinwohlorientiertheit“ sah Ute Scheub als erfolgversprechendes Zukunftsmodell und forderte von Journalisten vor allem „Reflektionsvermögen“. Mit einem „konstruktiven Schwänzchen“ am Ende eines Textes sei kritisch-konstruktivem Journalismus nicht genüge getan. Miriam Scharlibbes Frage, welche Ideen für konstruktiven Journalismus die Gesprächspartner beisteuern und welche ersten Schritte sie empfehlen könnten, schien folgerichtig. Chris Vielhaus riet Journalist*innen, bereits bei der Themen-setzung einen konstruktiven Fokus zu setzen, Leitprinzipien zu definieren und sich das Toolkit konstruktiven Herangehens im Arbeitsprozess ständig zu vergegenwärtigen. Einerseits fordere das im Lokalen oft, Themenbereiche bewusst einzugrenzen, andererseits ende die Arbeit nicht mit der Beschreibung eines Problems, befand Alexandra Haderlein. Denn immer stelle sich die weiterführende Frage: Was machen wir jetzt?
„Alle Stoffe kann man konstruktiv denken“, unterstrich Steffen Bayer. Das sei eine „Entscheidung in den Köpfen der journalistischen Macher und eine Haltungsfrage“. Hinsichtlich der journalistischen Darstellung gab er zu bedenken, dass es wesentlich schwieriger sei, spannend zu erzählen, „wenn man weiß, dass am Ende alles gut wird“. Geschichten des Gelingens seien herausfordernd, womöglich funktioniere eine „Heldenreisen-Dramaturgie“. Auch Ute Scheub fand Happy-End-Geschichten oft „total langweilig“, vieles ähnele sich, während sich Scheitern viel spannender schildern lasse: „Man muss für konstruktiven Journalismus eine Mischung finden, das ist es!“ Haderlein empfahl, Interesse zu wecken und Perspektiven zu zeigen, indem für eine Story möglichst „alle beteiligten Protagonisten mit unterschiedlichen Sichten auf die Bühne“ gehoben würden.
Kein Nischenmodell
Für den „richtigen Mix aus Good News und Bad News“, sprach sich Tagesmoderatorin Miriam Kid in der anschließenden Debatte aus und verwies auf vorhandene** sowie neu angekündigte Studien dazu, wie konstruktiver Journalismus wirkt. Rundfunkjournalist Manfred Kloiber bekannte, Skepsis überwunden zu haben und in konstruktivem Herangehen nun ein „wertvolles Konzept“ zu sehen, „Qualitätsjournalismus neu zu beleben“. Doch spiele sich das überwiegend „in einer Nische ab“. Bayer widersprach vehement: „Das ist kein Nischenjournalismus.“ Konstruktives Potenzial müsse in der Breite erkannt und mitgedacht werden. Einen „Journalismus der zweiten Art“ nannte die freie TV-Journalistin Katharina Fiedler das Konzept und unterstrich seine Chancen. Gegen eine Einordnung als „Slow-Journalismus“ im Gegensatz zur aktuellen Tagesberichterstattung, den Diskutant Wolfgang Mayer unterstellte, wandte sich Alexandra Haderlein. Ebenso wenig handele es sich um ein „Innovationslabor nur für die Jungen“. Verlagsleitungen, aber auch Gewerkschaften wie die dju in ver.di und die Kolleg*innen selbst müssten dafür sorgen, dass ein Umdenken zu konstruktivem journalistischen Herangehen befördert und die notwendigen Arbeitsbedingungen dafür geschaffen werden.
Beispiele für Studien