Rechercheteams gefragt – Einzelkämpfer sind out
Wie kann es nun gelingen, die hohen – vielleicht sogar hehren? – Ansprüche an Recherche und journalistische Sorgfalt in der Praxis umzusetzen? Zwei Referenten schilderten, wie in ihren Redaktionen versucht wird, jenseits reiner Chronistenpflicht eigene Geschichten zu finden, zu recherchieren und aufzubereiten.
Erwin Kohla leitet beim SWR die Redaktion „Reporter und Recherche“. Dr. Uwe Röndigs ist Redaktionsleiter beim Weilburger Tageblatt. Er skizzierte Anstrengungen im Lokalteil einer Zeitung, die bloße Berichterstattung mit originären und vielleicht sogar investigativen Geschichten aufzuwerten.
Kohla attestierte dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland eine hohe Qualität, man sei „wunderbar im Begleiten und Abbilden von Ereignissen“. Mit der tiefen Recherche habe man jedoch Schwierigkeiten. Daraus entwickelte der SWR vor fünf Jahren den Anspruch, mehr eigene Geschichten zu machen. Planungen für eine Rechercheredaktion begannen. „Wir wollten auch unser Image verbessern, Kollegen sollten nicht länger als Terminjournalisten dastehen, sondern mehr Recherchen anstellen und Exklusivgeschichten bringen.“ Es sei klar gewesen, dass eine Rechercheredaktion Dienstleister für alle Programme und Wellen sein muss – ohne eigene Sendung, ohne den Druck, am nächsten Tag etwas senden zu müssen.
Man sei nun finanziell „bestens ausgestattet“, auch umfangreiche Reisen sind möglich. Vier feste Redakteure arbeiten mit, Geld für einen fünften, der aus einer anderen Redaktion zeitweilig dazustoßen könnte, sei vorhanden.“ Leider ließe sich dies selten umsetzen, da die knapp besetzten Redaktionen kaum mal einen Mitarbeiter entbehren könnten. Themen werden in wöchentlichen Redaktionskonferenzen gesucht und gefunden. Tagesaktuelle Sachen kämen dabei seltener zum Tragen, da die Wellen eine gründliche mehrtägige Recherche nicht abwarten wollen. Eher gehe man den umgekehrten Weg und plane ein Thema auf einen bestimmten Termin hin. Stolz präsentierte Kohla einige Ergebnisse der bisherigen Arbeit, die auch politische Folgen hatten: So musste nach der Aufdeckung des Skandals um den Nürburgring der baden-württembergische Finanzminister gehen. Die rund einjährige Recherche zum Mord an Siegfried Buback, bei der alte Zeitungen, Zeugenaussagen und Akten gründlich geprüft wurden, mündete in das ARD-Feature „Verschlusssache Buback“. Der laufende Prozess gegen Verena Becker beruhe zum Teil auf SWR-Recherchen. Momentan befasse man sich intensiv mit den Hintergründen von Stuttgart 21, mit dem unrühmlichen Finanzgebaren einer Mainzer Wohnungsbaugesellschaft oder dem Rohstoffschmuggel aus afrikanischen Kriegsgebieten, in die ein bekanntes baden-württembergisches Unternehmen verwickelt scheint.
Probleme immer noch manifest
Kohla verschwieg nicht, dass seine Arbeit immer noch schwierig sei. Kürzlich habe das Netzwerk Recherche zwei Journalisten aus München und Hamburg für investigative Recherchen zu Stuttgart 21 ausgezeichnet. „Es hat mich betroffen gemacht, dass diese Berichterstattung nicht aus unserem Land selbst kam.“
Qualitätsjournalismus sei ein wichtiger Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. ARD-Anstalten liefern gute aktuelle Berichte, so Kohla, an der Themennachhaltigkeit hapere es jedoch. Für „Reporter und Recherche“ sei es schwierig, mit gut recherchierten Geschichten in die Formatwellen zu kommen. „Die berichten wie im Hamsterrad ausschließlich aktuell.“ Die CvDs zu überzeugen, sei auch deshalb mühsam, da eine Flut von Beratern den öffentlich-rechtlichen Rundfunk überschwemmt und dafür sorgt, dass der eigene Kopf oft ausgeschaltet werde.
Allzu selten: Tiefe Rechereche
Viel Beifall fand Uwe Röndigs, der Anspruch und Wirklichkeit in einer Lokalredaktion unter der Prämisse des Sparzwangs beleuchtete. Er stellte Thesen auf und gab Denkanstöße zu Problemen, die den Berufsstand noch lange beschäftigen werden. Berichte, die den Bischof zwingen, sich als Pädophiler zu outen, seien die Ausnahme, nicht die Regel: „Nur ein Bruchteil unserer Arbeit hat mit hintergründiger, aufklärender Recherche zu tun.“ Geschätzt blicke er morgens auf 90 Prozent Chronistenpflicht. Wenn die Redaktion gut funktioniere, könnten 30 Prozent der eigenen Ideen in angemessener Zeit umgesetzt werden. Die Verengung der Arbeit sorge jedoch für Frust und viele Überstunden. Kein gutes Arbeitsklima für mehr Recherche. Wer einen Mangel an Recherche in deutschen Redaktionen feststellt, sollte nicht die Beschäftigten dafür verantwortlich machen!
„Oft fehlen im Alltag fruchtbare theoretische und methodische Grundlagen“, so Röndigs. Es gehe nicht darum, schöne Geschichten zu recherchieren und zu schreiben oder um den „journalistischen Bombenabwurf“, sondern darum, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Es gehe um Gemeinwesenarbeit und um den demokratischen Auftrag. Dazu brauche der Journalismus mehr Theorie! Schließlich habe es eine Zeit gegeben, in der Journalismus viel mit kritischer Geisteswissenschaft zu tun hatte, messerscharf analysierte, Sachverhalte in Begriffe formte.
Röndigs legt Journalisten nahe, mal ein Weiterbildungsseminar zur Wissenschaftstheorie zu besuchen. Der „Positivismus-Falle“, die Kollegen dazu führt, vor allem bestätigende Informationen zu suchen, könne dann eher ausgewichen werden. Auch empfahl Röndigs Beschäftigung mit Jürgen Habermas. „Das lässt uns nämlich fragen, welche Interessen uns bei unseren Recherchen eigentlich leiten. Wollen wir Teil der Macht sein oder sie im Dienste unserer Leser kontrollieren?“
Entscheidend für mehr Tiefgang seien Redaktionen als Recherche-Teams, keine Einzelkämpfer. Recherche sei Aufgabe der Gesamtredaktion, keine Task Force-Angelegenheit. „Wenn wir wirklich weiterkommen wollen, brauchen wir jeden. Jeder Redakteur ist Rechercheur“, so Röndigs Credo. Aber zu oft seien Teams blockiert: Im sozialen „Mikrokosmos Redaktion“ leiden die Menschen, die Medien machen, unter inneren Verspannungen. Grenzlinien existierten zwischen Berufseinsteigern und Altredakteuren, zwischen Edelfedern und Producern, zwischen Redakteuren und Freien, zwischen Häuptlingen und Indianern. Auch einzelne Ressorts beäugen sich misstrauisch. Solche Gräben machen Teambildung zu einer großen Herausforderung. Wie kann eine befriedigende Beteiligung in dieser Klassenredaktion aussehen, lautet die Frage, die der Redaktionsleiter auch an die Gewerkschaft richtet.
Röndigs freut sich über den Erfolg seines Teams, das 2010 etwa eine 30-teilige Serie zu Kommunalfinanzen recherchiert hat und schon eine neue Serie über psychische Krankheiten plant. Pragmatismus heiße für ihn, mit solchen „Leuchttürmen“ Recherche zu trainieren – zum Nutzen des Lesers. Dafür brauche es eine stärkere Vernetzung besonders der Freien.
Das Goldene Zeitalter
Schlussredner Prof. Dr. Stephan Weichert war angetreten, das Publikum mit provokanten Thesen noch einmal wachzurütteln. „Wozu noch Journalismus?“ lautete sein Thema, gewürzt mit der „Leidenschaft und der Leidensfähigkeit eines Berufsstands unter Zugzwang“. Nach einem Rundumschlag über jüngste Peinlichkeiten der deutschen Medienlandschaft – Pixelpannen bei Google Street View, Fernsehauftritte von Ministergattin Stephanie zu Guttenberg oder der Hype um den leibhaftigen Blondinenwitz Daniela Katzenberger – weidete er sich am Skandal im Hause Neven DuMont. Die von Verleger-Spross Konstantin unter Pseudonym getätigten Anwürfe an den Blogger Stefan Niggemeier könnten für ihn das Karriere-Aus bedeuten. Der öffentlich ausgetragene Vater-Sohn-Konflikt ist für Weichert nichts weniger als eine „Parabel auf unsere Mediengesellschaft“.
Dennoch glaubt Weichert an ein „Goldenes Zeitalter des Journalismus“. Allerdings nur, wenn Journalisten bereit sind, in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen, wie sie unter sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen journalistische Qualität aufrechterhalten und sogar verbessern können. Ein Ansatz, von dem sich tatsächlich mancher im Saal provoziert fühlte. Am Ende gab sich Weichert mit vier Thesen, die er dem Publikum auf den Weg gab, versöhnlich. „Journalisten müssen unternehmerischer und vernetzter denken“, hieß es da. Und: „Es bedürfe eines Fonds für Qualitätsjournalismus statt eines Leistungsschutzrechts“. Beides dürfte kaum einen Hund hinter dem Ofen hervor locken, geschweige denn eine Journalistin provozieren. Auch dass die „Zukunft des Journalismus facettenreich und gemeinnützig“ ist, wird eher Freude als Ablehnung auslösen. Seine letzte These „Der Erhalt des Journalismus liegt (auch) im Interesse und in der Verantwortung der Medienpolitik!“ könnte so oder ähnlich in jedem einschlägigen Lehrbuch stehen. Auf jeden Fall gab sie endlich mal eine Antwort. Nämlich auf Weicherts Eingangsfrage.
Helma Nehrlich, Bettina Erdmann, Ute C. Bauer