Interview-Fälschungen sind nicht kreativ sondern kriminell – Wie der Borderline-Journalismus mit intellektuellen Klimmzügen verbrämt wird
Was die einen als „großen Schaden für die journalistische Glaubwürdigkeit“ beklagen, bejammern andere als „Ende einer Ära des Pop Journalismus“. Seitdem aufgeflogen ist, dass der Schweizer Autor Tom Kummer dem Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) jahrelang dreiste Interview-Fälschungen mit Hollywood-Stars angedreht hat, ist auf den Medienseiten eine heftige Debatte über den sogenannten „Borderline-Journalismus“ entbrannt. Für die einen ist Kummer ein Krimineller, für die anderen ein Kreativer, der im Grenzland von Fakt und Fiktion herumtollte. „Ein Stück Realität so lange drehen, bis es torkelt oder fliegt“, begeistert sich Wolfgang Büscher, langjähriger Autor des SZ-Magazins, über die „wunderbaren Ausgaben“ des schrägen Hochglanz-Supplements aus München: „In diesem Klima war vieles möglich, was sonst Misstrauen erregt.“ Es ist schon einigermaßen empörend, mit welchen intellektuellen Klimmzügen die Spaßfraktion in den Zeitungshäusern journalistische Fälschungen als Produkte eines „Konzeptkünstlers“ zu verbrämen sucht. Christian Bommarius, leitender Redakteur der „Berliner Zeitung“, hat – gewissermaßen als „ethisches Provisorium“ – eine bestechend einfache Faustregel gefunden in dieser dünkel- und dummerhaft geführten Debatte: „Journalisten sind keine Künstler.“ Wem die Wirklichkeit in Showbiz und Politik zu fad erscheint, um sie faktengetreu nachzuzeichnen, der sei an den Altmeister Egon Erwin Kisch erinnert: „Nichts ist erregender als die Wahrheit.“
Wo wären wir heute ohne den Koffer?“ – Diese und eine Reihe weiterer nachdenklicher Fragen hat Gunda Röstel, scheidende Bundesvorstandssprecherin der Grünen, zum „investigativen Höhenflug“ beim jüngsten Parteispendenskandal aufgeworfen: „Wären die Medien genauso knallhart eingestiegen, wenn es da nicht diese wunderschöne Story gegeben hätte von den Männern mit den graumelierten Schläfen, die sich auf der Raststätte den Geldkoffer zuschieben, wie es sonst Al Pacino und Marlon Brando tun?“ Einen „Trend zu Sensationsstories“ und „Schweigekartelle“ hat die Ostdeutsche im westdeutschen Medienbetrieb ausgemacht. „Der Blick aufs Sensationelle verstellt leicht den Blick aufs wahrhaft Skandalöse“, beklagt Röstel in ihrer wenig schmeichelhaften Analyse. „Der eigentliche demokratische Skandal des Systems Kohl war das Einfrieren der demokratischen Substanz, das Abwürgen des CDU-Parteilebens, die Austrocknung der parlamentarischen Prozesse“, urteilt die Grüne und mahnt die Medienvertreter zu intensiver Gewissenerforschung: „Wie kommt es eigentlich, dass Helmut Kohl so lange und so unangegriffen sein System praktizieren konnte. Warum blieben die Medien weitgehend stumm? Waren all die heute so unerbittlich-kritischen Journalisten während der Kohl-Ära vielleicht Auslands-Korrespondenten auf Hawaii?
Enthüllendes über Deutschlands Enthüllungs-Magazin, den „Spiegel“, hat der versierte Rechercheur Thomas Schuler in der „Berliner Zeitung“ veröffentlicht. Dass die „Spiegel“-Leute bei ihren Recherchen weder Freund noch Feind kennen, sei unter Chefredakteur Stefan Aust längst nicht mehr gewährleistet, behauptet Schuler und listet ein langes Sündenregister auf: Aust zeige eine „(zu) große Nähe“ zu VW-Chef Ferdinand Piëch und Telekom-Chef Ron Sommer, der Anzeigen-Großkunde T-Online sei „bewusst hofiert“ worden. Zudem drucke Aust, etwa über Leo Kirch oder Bertelsmann, „zu viele freundliche Texte“. Die „Berliner Zeitung“ zitiert einen „Spiegel“-Reporter mit denWorten: „Wir haben beim Schreiben doch längst eine Schere im Kopf und fragen uns: Geht das oben überhaupt durch?“ Dass Aust selbst in dem Enthüllungsstück kaum zu Wort kommt, hat er sich nach der Darstellung Schulers selbst zuzuschreiben. Bei einem Gespräch über Investigativ-Journalismus und Interessenskonflikte habe Aust zunächst „ausweichend und gereizt“ geantwortet, dann habe er nurmehr geschimpft. Später weigerte sich der „Spiegel“-Chef, das Gespräch zu autorisieren. Schuler: „Er gibt den Wortlaut nicht zum Abdruck frei.“ Kaum zu glauben: Der große „Spiegel“-Chef reagiert wie ein kleiner Provinzpolitiker.
Nach ihrem neuerlichen Blatt-Relaunch befindet sich die linksalternative „tageszeitung“ (taz) offenbar erneut in einer schweren Identitätskrise. „Niemand weiß im Moment so recht, warum wir diese Zeitung machen“, gestand taz-Redakteur Stefan Kuzmany gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Vielen sei das Gefühl dafür abhanden gekommen, klagen andere Redakteure, was man mit dem Alternativblatt machen könne. Dem einstigen Spontiblatt fehlt es vielfach an journalistischer Originalität und Exclusivität. Manche etablierten Blätter sind längst respektloser und unterhaltsamer als die alte Tante taz. Deren Medienredakteur Christoph Schultheis sieht das Ende des Blattes bereits nahen: „Zwei Jahre gibt es die taz noch. Danach wüsste ich nicht mehr warum.“
- Der Autor, Johannes Nitschmann (44), ist hauptberuflich als Reporter bei der Zeitung „Die Woche“ tätig.