Diversität ist das Schlagwort der Stunde. Menschen mit dunkler Hautfarbe spielen Anwälte oder Ärztinnen, es gibt Serien über Personen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen, und selbst bei ARD und ZDF sind homosexuelle Paare mittlerweile fast selbstverständlich. Eine Gruppe ist jedoch vergessen worden: Prominente Ausnahmen wie die kleinwüchsige Schauspielerin Christine Urspruch können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen nach wie vor kaum auftauchen.
Seit einigen Jahren lassen sich in deutschen TV-Filmen und Serien deutliche Veränderungen beobachten. Ärztinnen oder Schulleiterinnen werden von dunkelhäutigen Schauspielerinnen verkörpert, Männer mit türkischen Namen sind nicht mehr automatisch auf Kriminelle festgelegt, in vielen Serien gibt es homosexuelle Paare. Auch das Fernsehen ist also endlich in der Wirklichkeit angekommen und spiegelt das wahre Leben wider – mit einer Ausnahme: Menschen mit einer sichtbaren Behinderung sind in Filmen und Serien heutzutage genauso selten wie vor zwanzig Jahren schwarze Akademikerinnen. Laut statistischem Bundesamt lag die Zahl der Schwerbehinderten 2019 bei 9,5 Prozent, aber nach einer Studie des Instituts für Medienforschung an der Universität Rostock sind sie im Fernsehen eindeutig unterrepräsentiert: Von den Akteurinnen und Akteuren der untersuchten Sendungen hatten bloß 0,4 Prozent eine sichtbare schwere Behinderung. Hat die Film- und Fernsehbranche diese Gruppe vergessen?
Natürlich gibt es prominente Beispiele, die ein anderes Bild nahelegen, und das nicht nur aus Hollywood, wo solche Rollen gern mit „Oscars“ gekrönt werden, etwa für Marlee Matlin als gehörlose Hauptdarstellerin von „Gottes vergessene Kinder“ (1986) oder für Dustin Hoffman als Autist in „Rain Man“ (1988). Im aktuellen TV-Programm tummeln sich unter anderem eine blinde Rechtsanwältin („Die Heiland“), ein blinder Sonderermittler („Der Wien-Krimi“, beide ARD) und ein Polizist im Rollstuhl („Die Toten von Salzburg“, ZDF). Christine Urspruch genießt als kleinwüchsige Assistentin des Rechtsmediziners im „Tatort“ aus Münster sogar Kultstatus.
Woran es jedoch noch mangelt, ist die selbstverständliche Integration, denn Figuren mit Behinderung werden in der Regel über ihre Einschränkungen definiert. Rühmliche Ausnahme ist der „Tatort“ vom RBB: In den Filmen spielt Tan Çağlar den Reviermitarbeiter für die Hintergrundrecherche. Der Schauspieler hat eine Rückenmarkserkrankung, er sitzt wirklich im Rollstuhl. Dabei agierten vor der Kamera „deutlich mehr Menschen mit Behinderung, als man glaubt“, sagt der Drehbuchautor Benedikt Röskau („Contergan“): „Viele Schauspieler sprechen darüber jedoch nicht, weil sie fürchten, nicht mehr besetzt zu werden.“
Auch Erwin Aljukic ist Rollstuhlfahrer. Er hat die Glasknochenkrankheit, hat aber fast 13 Jahre im einstigen ARD-Dauerbrenner „Marienhof“ mitgewirkt. Er gehört zu den Unterstützern einer Initiative, die von Tina Thiele, der Gründerin des Branchenportals Casting-Network, ins Leben gerufen worden ist: „Cast me in“ soll zur Inklusion vor der Kamera beitragen. Aljukic ist Thiele sehr dankbar für ihre Pionierarbeit: „Bislang bin ich mir als Schauspieler mit Behinderung wie ein Einzelkämpfer vorgekommen, denn im Unterschied zu Mitgliedern anderer marginalisierter Gruppen konnte ich nie auf eine Initiative in der Art von #actout, Black Lives Matter oder Metoo verweisen. Erst wenn es eine derartige Bewegung gibt, die eine Sichtbarkeit der Betroffenen erzeugt, können sich die Sender nicht mehr rausreden.“
Die wollen das offenbar auch gar nicht. Ausgerechnet die RTL-Gruppe ist mit guten Beispiel vorangegangen: In der Komödie „Weil wir Champions sind“ (Vox, TV-Premiere 25. Mai) spielt Wotan Wilke Möhring einen arroganten Basketball-Coach, der nicht ganz freiwillig ein geistig behindertes Team trainiert. Diese Rollen sind authentisch besetzt worden. Die besonderen Umstände der Dreharbeiten dürften die Kosten deutlich in die Höhe getrieben haben. Trotzdem, versichert Produzentin Nina Viktoria Philipp (Constantin), sei es kein Problem gewesen, die Geldgeber von dem Projekt zu überzeugen. Übereinstimmend betonen Senderverantwortliche, wie wichtig Vielfalt im Fernsehen sei, „denn Filme spiegeln und formen unser Bild der Gesellschaft“, wie es Christoph Pellander formuliert, der Redaktionsleiter der für die Donnerstagskrimis und Freitagsfilme im „Ersten“ verantwortlichen ARD-Tochter Degeto. Frank Zervos, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie I und Stellvertretender Programmdirektor, merkt allerdings an, dass die filmische Darstellung von Behinderungen eine sensible Angelegenheit sei: „Es sollen ja keine reinen Stereotype – hochbegabter Autist, musikalische Blinde et cetera – reproduziert werden.“
Nachholbedarf gibt es laut Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs Fernsehfilm, Kino und Serie, zudem in der Frage, wer solche Rollen übernehme. Dieser Aspekt taucht in den Gesprächen über das Thema früher oder später fast zwangsläufig auf. Produzentin Philipp war auch für die ersten beiden „Heiland“-Staffeln verantwortlich. Bei der Planung der Serie habe es eine enge Zusammenarbeit mit entsprechenden Verbänden gegeben, und natürlich sei gefragt worden, warum die Hauptfigur nicht von einer blinden Darstellerin gespielt werde. Philipps Antwort: „Die Schauspielerei ist ein Handwerk, ein Beruf, den man gelernt haben sollte. Selbstverständlich haben wir nach einer blinden Hauptdarstellerin gesucht, aber wir haben keine gefunden, die für diese Figur in Frage gekommen wäre.“ Es sei daher umso wichtiger, sagt Erwin Aljukic, „dass Menschen mit Behinderung eine professionelle Ausbildung machen können, damit solche Verlegenheitslösungen in Zukunft nicht mehr nötig sind.“ Er fordert eine Diversitätsquote, damit endlich Bewegung in die Sache komme: „Ähnlich wie in Großbritannien sollte die Vergabe öffentlicher Gelder mit der Auflage verbunden sein, divers zu besetzen. Das wäre der Stein, der alles andere ins Rollen bringen würde.“
Inklusion & Schauspiel: Wir wollen alle sehen! CAST ME IN!
Veranstaltet im Rahmen des International Film Festival Cologne (IFFC) am 2. Juni 2022 im Filmhaus Köln. Eine Initiative für echte Diversität in der Film- und Fernsehbranche von Tina Thiele mit Unterstützung von Rolf Emmerich.
Menschen mit Behinderung erhalten hier zielgerichtet Zugang zu den Entscheidungsträger*innen im Film. Gleichzeitig erhält die Filmwelt eine Möglichkeit, diese Künstler*innen kennenzulernen, um sie zu besetzen.