Gespaltene Türkei
Von Harald Gesterkamp | Die Türkei ist mitschuldig an der Ermordung von Hrant Dink. Das stellte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof Mitte September fest und verurteilte die türkische Republik dazu, die Angehörigen mit 105.000 Euro zu entschädigen. Der türkisch-armenische Journalist war im Januar 2007 in Istanbul auf offener Straße von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Der Mord erregte weltweit Aufsehen. (M 01–02/2007 und 12/2007)Der Staat wurde verurteilt, obwohl kein Polizist oder Soldat die tödlichen Schüsse abgegeben hat. Aber die Behörden schützten Dinks Leben trotz vorheriger Morddrohungen nicht ausreichend. Zudem war der Journalist kurz vor seiner Ermordung von einem Istanbuler Gericht wegen „Beleidigung des Türkentums“ verurteilt worden – das dürfte die spätere Tat begünstigt haben.Der Mord und auch der Umgang mit der Klage in Straßburg machen einmal mehr deutlich: Die Türkei ist gespalten. Auf der einen Seite hat die Regierung das Urteil akzeptiert und damit völkerrechtlich so etwas wie ein Schuldeingeständnis abgegeben. Führende Repräsentanten, unter ihnen Präsident Gül, haben sich bei der Familie Dinks entschuldigt. Auf der anderen Seite gibt es in den Apparaten von Justiz und Polizei nationalistische Kräfte, die Dink nicht als Opfer, sondern als Täter sehen. In der Verteidigungsstrategie wurde Dink von Beamten des türkischen Außenministeriums sogar mit dem deutschen Neonazi Michael Kühnen verglichen: Beide hätten zu Volksverhetzung und Hass angestachelt. Minister Davutoglu distanzierte sich später von dem Vergleich und betonte, er habe die Schrift nicht gekannt. Unvergessen bleiben auch die Bilder, auf denen Polizisten den festgenommen Mörder mit einer türkischen Fahne drapierten und wie einen Helden feierten. Zu einer Trauerkundgebung in Istanbul wiederum kamen mehrere hunderttausend Menschen und erklärten: Wir alle sind Hrant Dink.Man wird also genau hinschauen müssen, wie die Türkei künftig mit Pressefreiheit und Bürgerrechten umgeht. Die neue Verfassung bietet Chancen, weil sie unter anderem ermöglicht, Klagen wie die in Straßburg jetzt in der Türkei selbst zu führen. Auf der anderen Seite gibt es begründete Skepsis, dass die islamisch-konservative Regierung in Ankara mit der Reform versuchen wird, ihre Macht zu zementieren. In dem Land, das zwischen Moderne und Tradition, zwischen Säkularismus und Islam sowie zwischen Reformen und kemalistischem Nationalismus seinen Weg sucht, gilt es – quer durch alle Lager – diejenigen zu unterstützen, die konsequent für eine Stärkung der Menschenrechte eintreten.
Aufgehübschte Wahlen
Von Eckhard Stengel | Wenn Journalisten über Vorstandswahlen berichten, sollten sie immer einen Taschenrechner dabei haben – jedenfalls auf Mitgliederversammlungen von Vereinen und bei Parteitagen von CDU oder CSU. Denn beim Berechnen der Wahlergebnisse lassen die Vereine und die Unionsparteien einfach die Enthaltungen unter den Tisch fallen. Entsprechend verzerrt sind dann die offiziell verkündeten Prozentzahlen – also lieber selber ausrechnen!
Für Vereine ist diese irreführende Rechenart ausdrücklich vorgeschrieben. Die CDU müsste sich als Partei zwar nicht ans Vereinsrecht halten, hat aber trotzdem in ihrem Statut für alle Organisationsebenen festgelegt, dass Enthaltungen bei der Ermittlung der Mehrheit nicht mitzählen. In der CSU-Satzung gelten Enthaltungen sogar als ungültige Stimmen.
In der Praxis sieht das dann so aus: Bei der Wiederwahl von Angela Merkel als Parteichefin votierten vor zwei Jahren 844 Delegierte für sie – also 93,2 Prozent der 906 gültigen Stimmen. Nach offizieller CDU-Lesart waren es aber 94,8 Prozent, denn die 16 Enthaltungen wurden schlicht ignoriert. Viele Medien übernahmen die Prozentangaben ungeprüft – und werden sie als Vergleichszahl wohl auch beim CDU-Parteitag Mitte November in Karlsruhe wieder heranziehen.
Nur dank dieses aufgehübschten Ergebnisses schnitt Merkel damals etwas besser ab als der neue SPD-Chef Sigmar Gabriel bei dessen Wahl 2009: Da bekam er korrekt berechnete und auch so verkündete 94,2 Prozent der gültigen Stimmen – unter Einbeziehung der Enthaltungen. Denn alle Bundestagsparteien außer der Union zählen die Voten von Unentschlossenen mit.
Das gilt zumindest für ihre Parteiversammlungen; bei Parlamentsfraktionen dagegen kann man sich nicht immer auf korrekte Angaben verlassen: Als kürzlich die Bremer FDP-Fraktion einen neuen Chef wählte, erhielt der einzige Bewerber, Oliver Möllenstädt, nur drei Stimmen bei zwei Enthaltungen – also magere 60 Prozent Zustimmung. Dennoch verkündete er den Medien Einstimmigkeit. Das sei „eine gängige Interpretation“, verteidigte er sich hinterher, als die List aufflog.
Die CDU rechtfertigt diese Zählweise mit dem Hinweis, dass sich so immer klare Mehrheiten ermitteln ließen. Eine Irreführung sei das nicht, denn neben den (verfälschenden) Prozentzahlen erwähne das jeweilige Tagungspräsidium immer auch die Enthaltungen. In den anschließenden Pressemitteilungen werden sie allerdings oft verschwiegen. Vielleicht, weil die Union so bibeltreu ist? Schließlich heißt es in Matthäus 5,37: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“