Krieg und Frieden: Entrüstet euch!

Good news? Illustration: Miguel Morales/toonpool.com F

Meinung

Das erste Opfer des Krieges, so las und hörte man zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine immer wieder, ist die Wahrheit. Im Krieg wird gelogen, von allen Seiten – das ist das Wesen der Kriegspropaganda. Demgegenüber sind die Medien in demokratischen Gesellschaften der Wahrheit verpflichtet. Fragen wir also, wie unsere Medien dieser Verpflichtung nachkommen.

Ein frühes Opfer des Krieges ist die Begrifflichkeit, die präzise sprachliche Benennung von Sachverhalten. Wenn Russlands Präsident von einer „militärischen Spezialoperation“ spricht, ist das genauso beschönigend wie der Begriff „Operation Enduring Freedom“, deutsch „Operation andauernde Freiheit“, für den auch von der Bundesregierung unterstützten „Kampf gegen den Terrorismus“ in Afghanistan. Die Schröder/Fischer-Regierung vermied den unpopulären Begriff Krieg. Die Bombardierung Belgrads 1999? Eine „humanitäre Intervention“. Afghanistan? Ein „Stabilisierungseinsatz“, hauptsächlich in Verfolgung edler Ziele wie Brunnenbau und Frauenförderung. Für zivile Opfer des Kosovo-Krieges wurde seinerzeit das zynische Wort „Kollateralschäden“ opportun.

Auch der Ukraine-Krieg produziert jede Menge kreative Sprachschöpfungen, auf allen Seiten. Das von Kanzler Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede deklarierte „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro ist de facto nicht nur eine beachtliche Neuverschuldung, sondern schlicht das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. Wo Medien solche Begriffe ohne Anführungszeichen verwenden, übernehmen sie unkritisch das Wording der Regierung. Wenn die Grünen Hofreiter und Nouripour als beharrliche Einpeitscher zugunsten der Lieferung schwerer Waffen darauf beharren, weiterhin die „Friedenspartei“ Deutschlands zu sein und Medien ihnen das unwidersprochen durchgehen lassen, dann ist George Orwells „Neusprech“ wieder ganz nahe: „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke.“

Zweierlei Maß

Militärische Erfolge sind die eine Sache, die andere ist der Sieg im Medienkrieg. Je emotionaler aufgeladen die verabreichte Information, je klarer das Feindbild, desto höher die Kriegslüsternheit der Bevölkerung. Deshalb reicht es den hiesigen Medien nicht, die russische Invasion in der Ukraine – völlig zu Recht – als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu brandmarken. Sie operieren fast immer mit zusätzlich emotionalisierenden Attributen wie „brutal“, „verbrecherisch“, „menschenverachtend“. Aber gelten die nicht für alle kriegerischen Konflikte?

Man vermisst eine annähernd gleichrangige Informationsbereitschaft und Empörung, wenn es um Kriege geht, die von NATO, USA, Bundeswehr und anderen Alliierten Deutschlands betrieben werden. Kriege, die sich weder in ihrer Brutalität noch in Bezug auf die Schwere von Kriegsverbrechen sonderlich vom russischen Vorgehen in der Ukraine unterscheiden. Solche doppelten Standards sind nichts Neues. Der 20 Jahre währende Krieg in Afghanistan kostete schätzungsweise 300.000 Menschen das Leben, darunter etwa ein Drittel Zivilisten, produzierte Millionen Flüchtlinge, hinterließ ein ruiniertes Land. Was passierte eigentlich mit den Tausenden Ortskräften, die Deutschland evakuieren wollte? Die Ereignisse liegen erst ein knappes Jahr zurück, doch die Medien haben – wie es scheint – fast völlig das Interesse an diesem Schauplatz und mithin einer kritischen Aufarbeitung des gescheiterten Afghanistan-Abenteuers verloren.

Kriegsverbrechen? Deutsche Medien finden es gut, wenn schon während der Kampfhandlungen in der Ukraine Schnellgerichte über russische Täter urteilen. Auf weniger Interesse stießen dagegen die Enthüllungen von Wikileaks über US-Kriegsverbrechen im Irak. Julian Assange drohen dafür im Falle seiner Auslieferung bis zu 175 Jahre Haft. Ein Präzedenzfall, der bekanntlich verheerende Auswirkungen auf investigativen Journalismus weltweit haben könnte. Als ein Londoner Gericht Anfang Mai den formellen Auslieferungsbeschluss veröffentlichte, fiel die Berichterstattung recht dünn aus. Mehr Aufmerksamkeit widmeten deutsche Medien dem etwa zeitgleichen Haftantritt des gealterten Tennis-Idols Boris Becker.

Die Auslandsberichterstattung deutscher Medien weist selbst da weiße Flecken auf, wo solide Informationen unabdingbar sind für Entscheidungen über Krieg und Frieden. Erst vor wenigen Wochen publizierte die Otto-Brenner-Stiftung eine aktuelle Studie zur Berichterstattung über die Einsätze der Bundeswehr in Mali und der Sahel-Region. Untersucht wurde die Arbeit der „Leitmedien“, genauer von „Zeit online“, FAZ.net, bild.de und tageschau.de. Das Fazit fällt düster aus: Die Rede ist von „übervereinfachter Realitätswahrnehmung“ bei weitgehender Ausblendung der afrikanischen Sichtweise. 60 Prozent aller Berichte basierten auf Agenturmaterial, eigenständige Recherche sei Mangelware. Wo Korrespondenten berichteten, geschehe dies nicht vor Ort, sondern aus Kapstadt, Rabat, Paris oder gar Berlin, mithin Tausende von Kilometern vom Geschehen entfernt.

Eine allzu dünne Informationsbasis für einen demokratischen Meinungsbildungsprozess über Sinn oder Unsinn des Bundeswehreinsatzes, also über Krieg und Frieden, lässt den Journalisten und Afrikanisten Lutz Mücke, Autor der Studie, vernichtend urteilen: „Anhand der analysierten Berichterstattung konnte sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit weder substanziell über die Bundestagsdebatten noch hintergründig über die Geschehnisse in der Sahelzone informieren.“ Anlass für Redaktionen, ihre Krisen- und Kriegsberichterstattung zu professionalisieren?

Die Fronten scheinen klar

Im Ukraine-Krieg scheinen die Fronten klar. Hier der böse Aggressor, da die überfallene Ukraine. Hier der finstere Autokrat Putin, da der mutige Volksheld Selenskyj. Zu den selbstverständlichen Aufgaben der Medien gehört es, den Kriegsverlauf mit allen seinen Folgen für die dortige Bevölkerung umfassend zu schildern. Viele Medien haben sich nach dem Angriff auf die Ukraine früh entschieden, dem Narrativ des „guten“ Selenskyj zu folgen – verständlich angesichts der Kriegsgräuel. Dennoch müsste es doch die vornehmliche Aufgabe der Berichterstattung sein, Distanz zu beiden Kriegsparteien zu wahren, um deren Handeln und ihre Aussagen unvoreingenommen einzuordnen.

„Von wem soll man professionelle Distanz zur Propaganda aller Seiten erwarten, wenn nicht von Menschen, die Seminare über ‘Propaganda‘ besucht haben?“ fragt der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer im „Spiegel“ und kritisiert einen „Erlebnisjournalismus der militärischen Art“. Ergebnis seien „endlose Wiederholungen des immer gleichen Narrativs, angereichert mit bebenden Betroffenheitsfloskeln und stereotypen Bildern ohne Aufklärung, aber mit Moral-gesättigtem Sentiment“.

Die von Fischer geforderte Distanz ist in der Frage nach dem Pro und Contra von Waffenlieferungen besonders weitgehend abhandengekommen. Viele Medien, egal ob privat oder öffentlich-rechtlich, agieren eher als Einpeitscher einer größtmöglichen militärischen Unterstützung der Ukraine denn als nüchtern analysierende Informationsvermittler.

Indem der Journalismus sich auf eine Seite des Konflikts stellt, wirkt er auf gefährliche Weise polarisierend. Auf diese Erkenntnis des Friedensforschers Johan Galtung wies erst kürzlich der Kommunikationswissenschaftler Florian Zollmann im Interview mit „Übermedien“ hin. „Medien gucken dann auf den Krieg wie auf eine Sportveranstaltung: Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer? Und im Prinzip ohne konstruktive Lösungen einzubringen, ohne zu schauen: Was sind die verschiedenen Interessen, was gibt es für Lösungsstrategien und wie kann man deeskalierend wirken als Journalist?“

Verengter Meinungskorridor

Dass sich die Zivilgesellschaft in Fragen von Krieg und Frieden einmischt, ist zunächst zu begrüßen. Die schrille Auseinandersetzung mit den Positionen der Autor*innen zweier Offener Briefe belegt allerdings, wie intolerant das Meinungsklima hierzulande mittlerweile geworden ist. Die Verengung des Meinungskorridors lässt sich am Umgang mit einzelnen Protagonist*innen ablesen, am Shitstorm, der sich über sie ergießt. Wer gegen die Lieferung schwerer Waffen eintritt, mutiert flugs zum Putin-Troll, „nützlichen Idioten des Kreml“, usw.

Wenn ein bekannter Digital-Irokese auf rhetorischem Kriegspfad substantielle Teile der Friedensbewegung pauschal als „Lumpen-Pazifisten“ verächtlich macht und en passant auch noch Mahatma Gandhi als „Knalltüte“ miterledigt, dann beschert das wohl Einladungen in abendliche Talk-Runden, trägt aber nichts zur rationalen Erörterung des Konflikts bei.

Im Visier medialer Attacken stehen vor allem sozialdemokratische Politiker. Applaus erhält der ukrainische Botschafter, wenn dieser dem Bundespräsidenten vorwirft, mit Russland ein „Spinnennetz der Kontakte“ geknüpft zu haben, wenn er Kanzler Scholz als „beleidigte Leberwurst“ bezeichnet, weil dieser sich symbolischen Besuchsritualen verweigert. Und die totale gesellschaftliche Exkommunikation, die der „starrsinnige“ Altkanzler Gerhard Schröder derzeit erlebt? Wolfgang Michal wittert im „Freitag“ bereits untrügliche Zeichen für einen Rückfall in die hysterischste Phase des Kalten Krieges. Es werde nicht mehr lange dauern, „dann gibt es in Deutschland – wie in den USA in den frühen 1950er Jahren – einen ‚Ausschuss zur Untersuchung prorussischer Umtriebe‘, vor dessen Inquisition ‚russlandhörige‘ Sozialdemokraten, friedensbewegte Unterzeichner offener Briefe und andere obskure Linke (Wagenknecht!) ihre Moskau-Kontakte beichten müssen, wenn sie nicht auf einer schwarzen Liste landen wollen“.

Der Tag scheint nicht fern, an dem selbst die Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs infrage gestellt wird. Waren am Ende auch sie „naive“ Sozis, die zwar die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands schufen, aber durch ihren irrigen Glauben an „Wandel durch Handel“ Illusionen über den wahren Charakter der Sowjets/Russen schürten?  Schlimmer geht’s immer: Ausgerechnet die „tageszeitung“ publizierte am 9. Mai (!) einen Text der russischen „Nowaja Gaseta“-Autorin Julia Latyna mit lupenrein rechtsextremem Geschichtsrevisionismus: Demnach habe eigentlich Stalin den Zweiten Weltkrieg geplant, Hitlers Krieg sei im Grunde ein Präventivschlag gewesen und „Putin ist der zweite Stalin“. Die Umschreibung der Geschichte ist, so scheint es, in vollem Gange.

Zum Konzept eines Friedensjournalismus gehörte für Johan Galtung die Analyse der Entstehung des jeweiligen Konflikts, aber auch die Darstellung von Lösungsansätzen. Im konkreten Fall der Ukraine, so Kommunikationsforscher Florian Zollmann, wäre „abzuwägen, welche konstruktiven Konfliktlösungsstrategien das durch die russische Invasion geschaffene Leid der Menschen am schnellsten beenden und gleichzeitig in ein akzeptables politisches Abkommen münden könnten“. Von einem solchen deeskalierenden Ansatz bewegen sich deutsche Medien derzeit Lichtjahre entfernt.

 

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