taz-Kongress: Was ist heute noch kritische Öffentlichkeit?
Vor 30 Jahren, am 17. April 1979, erschien die erste reguläre Ausgabe der taz. Den Geburtstag feierte die Redaktion mit einem Kongress vom 17. bis 19. April im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Unter der Überschrift „¿Tu was! Utopie & Freiheit“ ging es weniger um einen Rückblick auf die gemeinsame Vergangenheit – man wolle „kein Schlesiertreffen“, so Jan Feddersen vom taz-Kongress-Team. Anspruch war vielmehr, nach vorn zu schauen und gesellschaftliche Themen zu diskutieren, die für die Zukunft relevant sind. 3000 Teilnehmer beteiligten sich in rund 80 Veranstaltungen, so die Bilanz der Organisatoren.
„Was ist heute noch kritische Öffentlichkeit?“ Diese Frage zog das Publikum am Samstagvormittag in den Theatersaal, der sich schnell füllte. In seinem Einführungsreferat gab Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Chefredaktion des Stern, sogleich Entwarnung. Seine These: Heute gibt es mehr kritische Öffentlichkeit denn je zuvor. Jörges begründete dies damit, dass der so genannte Enthüllungsjournalismus heute breiter aufgestellt ist, als früher. Er sei nicht mehr nur in ein paar Magazinen angesiedelt, sondern auch in Tageszeitungen. „Alle Skandale der jüngsten Zeit wurden durch Medien aufgedeckt“, so Jörges. „Siemens-Korruptionsaffäre, Pharmaskandale, Lidl, Deutsche Bahn, Zumwinkel, die Boni der Manager, das ist alles Medienarbeit gewesen.“ Daneben biete das Internet eine unerschöpfliche Plattform zur Aufklärung. „Jede Idee findet ihre Plattform“, versicherte der Stern-Mann.
„Ich möchte fast allem, was eben ausgeführt wurde, radikal widersprechen, außer dem Thema Internet“, hielt der taz-Mitbegründer und freie Journalist Tom Schimmeck dagegen. Kritische Öffentlichkeit beschrieb er als eine Medienwelt, welche die Vielfalt von Ideen aufnehme, vor einem breiten Publikum diskutiere und zu einer Lösung führe. Genau das vermisst Schimmeck heute. Wie schon vor 30 Jahren zur taz-Gründung gebe es im heutigen Berliner Hauptstadtjournalismus eine Überschneidung der publizistischen Lager, verglichen mit einer Großen Koalition. „Wir haben seit über zehn Jahren dreieinhalb Leitmedien und 500 Gleitmedien. Es singen alle das gleiche Lied und bestimmte Sachen werden komplett ausgeblendet“, sagte Schimmeck. Gerade im Tagesjournalismus werde die Utopie, die Vision, verächtlich gemacht. Während der rot-grünen Regierung seien Kritiker der Agenda 2010 systematisch niedergeschrieben worden. „Es gibt ein Verhöhnung von Leuten, die anderes denken wollen, die Nachfragen stellen. Auch jetzt in der Finanzkrise gibt es keine aufrichtige Debatte: Was haben wir da eigentlich gepredigt? Was ist daran falsch gewesen?“, so die Beobachtung Schimmecks.
Maria Kniesburges, Chefredakteurin von ver.di Publik, schloss sich der Kritik an. Kritische Öffentlichkeit konzentriert sich aus ihrer Sicht auf zwei Punkte: Transparenz schaffen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie Kontrolle ausüben. „Ich wünsche mir, dass es Normalität wird zu hinterfragen: Wer tut da was, mit welchem Interesse und wem nützt das?“, erklärte die Journalistin. „Bei der Finanzkrise reicht es nicht zu sagen, das ist alles sehr bedauerlich und wir wollen nach vorn blicken. Man muss hinschauen, was passiert denn wirklich? Wer sitzt mit der Bundesregierung zusammen und schnürt die eigenen Rettungspakete? Das sind die Finanzmarktexperten und -jongleure, die genau dieses Desaster angerichtet haben.“ Kniesburges forderte außerdem, sich mehr gesellschaftlichen Missständen zu widmen. „Die Tatsache, dass knapp 1,5 Millionen Menschen Vollzeit arbeiten, aber trotzdem zum Amt müssen, weil sie einen Hungerlohn verdienen, ist ein gesellschaftlicher Skandal. Und da sehe ich große Lücken in der Berichterstattung in unseren Medien.“
Die freie Journalistin und ehemalige taz-Chefredakteurin Claudia Wick widersprach dem mit Blick aufs Fernsehen. „Wenn es im Mittagsmagazin um die PIN-AG geht, sehe ich die personalisierte Geschichte von dem einen, wo ich denke, das könnte auch mein PIN-Bote sein. Ich sehe das und ich lege das manchmal auch zur Seite“, räumte Wick ein. „Das Problem ist, dass die Öffentlichkeit sehr viele von diesen Menschen in den Fokus rückt und wir davon sehr schnell übersättigt sind. Es gibt nicht soviel Bereitschaft, das sich ständig anzukucken.“ Wicks These: Kritische Öffentlichkeit kann nur vom Publikum ausgehen. „Es gibt wirklich viel Gutes, aber es kommt nicht an, weil wir das als Konsumenten nicht haben wollen.“ Wick appellierte ans Publikum, sich zu fokussieren, „damit eine Bewegung entsteht, die sich gemeinsam hinter etwas stellen kann. Im Sinne der Gleichschaltung von Interessen, dass etwas anders, und zwar besser werden soll.“ Diese – politisierte – Öffentlichkeit könnte dann auch sagen, was ihr besonders wichtig ist, auch in den Medien.
„Das ist das Stichwort: Bewegung. Wofür sind wir unterwegs?“, sponn Hans- Ulrich Jörges den Faden weiter. „Das kann man nicht erfinden. Das hat´s auch nicht immer gegeben – in der Nachkriegsgeschichte dreimal: Entspannungspolitik, 68er, Friedensbewegung. Zwischendurch war auch Leere.“ Eine Bewegung müsse aus den Problemen der Zeit und aus der Öffentlichkeit selbst kommen. „Das können wir im Moment nicht erkennen“, so Jörges. Dennoch tröste ihn: „Es bleibt nichts übrig, was in den Medien nicht kritisch zum Thema gemacht wird.“